„Beim Filmen fühle ich, dass ich lebe“, sagt Abou Bakar Sidibé aus dem Off, während sein Blick durch die Kamera in die Ferne schweift. In der Nacht ist Melilla hell erleuchtet – jene spanische Exklave auf dem afrikanischen Kontinent, die neben der Insel Lampedusa zum Sinnbild der sogenannten Flüchtlingskrise geworden ist. Für Tausende von Afrikanern bedeutet Melilla das Tor nach Europa. Näher können sie dem ersehnten Ziel nicht kommen, ohne sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu begeben. Aber hier ist für die meisten von ihnen auch Endstation. Ein Metallzaun schirmt den europäischen Außenposten vor den Afrikanern ab, die sich in den Lagern auf dem Berg Gurugú, einem erloschenen Vulkan an der Küste Marokkos, sammeln. Hier ist die „Festung Europa“ tödliche Realität.

Der 35-jährige Malier Abou lebt seit über einem Jahr in einem dieser Lager. In seiner Heimat hat er studiert, aber hier sind sie alle gleich: der ehemalige Arzt wie der Fußballprofi – alle hoffen in Europa auf ein besseres Leben. Man hat die verzweifelten Bilder von Geflüchteten in den vergangenen Jahren oft gesehen. Sie machen dem Westen immer wieder schmerzhaft bewusst, wie sehr die Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist. 

Regie abgegeben an die Betroffenen selbst

Der Dokumentarfilm „Les Sauteurs“ unterscheidet sich jedoch in einem entscheidenden Punkt von den Nachrichtenbildern und Fernsehreportagen. Denn Moritz Siebert und Estephan Wagner sind nur nominell die Macher des Films. Die Regie haben sie an Abou Bakar Sidibé abgegeben, damit das, was in Europa pauschal „Flüchtlingskrise“ genannt wird, endlich auch aus der Perspektive der Betroffenen erzählt wird, also von jenen, die in westlichen Medien meist nur als anonyme „Masse“ oder „tote Afrikaner“ Erwähnung finden. 

auf der anderen seite

Les Sauteurs (Foto: Abou Bakar Sidibe)
(Foto: Abou Bakar Sidibe)

„Les Sauteurs“ umgeht mit diesem so einfachen wie politisch korrekten Trick dem Problem der Repräsentation: der Frage, wer hier eigentlich für wen spricht. Siebert und Wagner haben Abou eine Kamera und etwas Ausrüstung in die Hand gedrückt. Die Kamera erfüllt dabei zweierlei Funktion: Sie hilft Abou, der sein ganzes Leben in Mali zurückgelassen hat, auf seiner Identitätssuche in dieser für ihn neuen Umgebung. Und sie dokumentiert auf empathische und verblüffende Weise den Alltag im Flüchtlingscamp. 

Abou macht sich mit der Kamera in der Hand auf Identitätssuche

Hier sind die Hierarchien flach, die verschiedenen Nationalitäten bilden Räte, welche wiederum einen „Präsidenten“ wählen, der die Ordnung im Camp herstellt und die Fluchtstrategie bestimmt. Die disziplinierte Selbstorganisation mit einem strengen Regelwerk (Verräter werden zum Tode verurteilt) widersetzt sich allen medialen Darstellungen der chaotischen Zustände in Flüchtlingslagern. Im Gegenteil liefert „Les Sauteurs“ ein differenziertes Bild vom Gemeinschaftsgefühl unter den Geflüchteten.

Abou filmt seine Freunde bei Gesprächen über ihre Zukunftspläne und über die illegalen Methoden des marokkanischen Polizeichefs, er zeigt die Verwüstungen nach den regelmäßigen Polizeirazzien im Lager und ist bei einigen – vergeblichen – Versuchen, den Zaun zu überwinden, sogar mitten im Geschehen.

auf der anderen seite

Les Sauteurs (Foto: Abou Bakar Sidibe)
(Foto: Abou Bakar Sidibe)

Erstaunlicherweise erweist sich Abou im Laufe der Dreharbeiten als zunehmend kompetenter Filmemacher mit einem genauen Blick für die Widersprüche, die in den vereinfachten Darstellungen in den westlichen Medien nur selten zur Sprache kommen. Zum Beispiel, dass es für den Wunsch, nach Europa zu gehen, aus historischer Sicht durchaus plausible Argumente gibt. „Jahrzehntelang wurde mein Land ausgebeutet“, sagt Abou einmal in die Kamera. „Sie können uns nicht alles nehmen und jetzt sagen, dass wir draußen zu bleiben haben.“

Den Luxus der Pietät können sich diese Männer nicht leisten

Gurugú ist ein Ort der Hoffnung und des Schmerzes. „Das Schlimmste hier ist, deine Brüder sterben zu sehen“, meint einer der Männer. Einmal müssen sie die Eltern eines Kameraden anrufen, der die Flucht über den Grenzzaun nicht überlebt hat. Abou lässt die Kamera mitlaufen, eine heftige Szene, aber den Luxus der Pietät können sich diese Männer, die um ihre Existenz kämpfen, nicht leisten. „Les Sauteurs“ ist ihr Film, und wie zum Beweis stellen Siebert und Wagner den Aufnahmen Abous zwischendurch immer wieder Schwarz-Weiß-Bilder aus den Wärmebildkameras der Grenzposten gegenüber. Sie zeigen die unbarmherzige Perspektive der Europäer, in der die Geflüchteten beim hilflosen Anrennen gegen das Bollwerk nur an das Gewimmel in einem Ameisenhaufen erinnern. 

Ebenfalls gegen weit verbreitete Vorstellungen über die gegenwärtigen Migrationsbewegungen geht der syrische Dokumentarfilm „Haunted“ (Kinostart: 24. November) vor. Regisseurin Liwaa Yazji hat für ihren Film Opfer des Bürgerkriegs in Syrien in ihren zerstörten Häusern aufgesucht und dort mit ihnen über den Begriff „Heimat“ und den Verlust ihres Eigentums gesprochen. Ihre Gesprächspartner/-innen stehen großenteils noch unter Schock, auch während der Dreharbeiten sind Einschüsse und Bombardements allgegenwärtig. 

Erschütternd sind die Bilder, in denen Yazji die Menschen durch ihre zerstörten Häuser begleitet, während diese von den Erinnerungen erzählen, die sie mit den Gegenständen aus den Ruinen verbinden. Deutlich wird dabei in allen Interviews, dass eigentlich keiner der Betroffenen Syrien verlassen möchte. Die Identifikation mit der eigenen Kultur, dem eigenen Besitz ist so groß, das einer der Befragten sogar zugibt, lieber sterben zu wollen, als sein Land zu verlassen.

Indem „Haunted“ sich auf konkrete Orte – die Häuser der Menschen auf der Flucht, ihren Lebensmittelpunkt – konzentriert, gelingt der Regisseurin die eindrucksvolle Studie einer „Flucht-Psychologie“. Eine modische junge Frau berichtet, dass bei den Bombenangriffen alle Spiegel im Haus zerstört wurden. Sie könne sich nicht mehr selbst betrachten und hat dadurch den Bezug zu sich verloren. Damit liefert sie ein treffendes Bild für die traumatische Erfahrung des Krieges und der Flucht, die den Menschen ihre Identität, das Heim und die Heimat, nimmt. 

Ein Verständnis für die Sichtweisen von Geflüchteten entwickeln

„Les Sauteurs“ und „Haunted“ ergänzen sich auch deshalb so gut, weil sie sehr unterschiedliche Vorstellungen von „Heimat“ behandeln. Für Abou und seine Freunde hat der Begriff „Heimat“ jede Bedeutung verloren; sie haben keinen Bezug mehr zu ihrem Herkunftsland. Der Status des Migranten ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Für die Menschen, die Liwaa Yazji interviewt, ist der Verlust ihres Hauses hingegen gleichbedeutend mit einer Entwurzelung. Beide Filme zeigen, wie nötig es ist, im Westen ein Verständnis für die Sichtweisen von Geflüchteten zu entwickeln, um die tatsächlichen Ursachen und Folgen der heutigen (und zukünftiger) Flüchtlingsbewegungen besser zu verstehen. 

Les Sauteurs, Regie und Buch: Moritz Siebert, Esteban Wagner, Abou Bakar Sidibé, Dänemark 2016, 80 Min.

Haunted, Regie und Buch Liwaa Yazji, Syrien 2014, 112 Min.