Fast 400 Rechtsextreme müssten derzeit eigentlich in deutschen Gefängnissen sitzen, tun sie aber nicht. Die Haftbefehle wurden bislang nicht vollstreckt, weil die Täter unauffindbar sind. Bei den meisten Taten handelt es sich um kleinere Delikte wie Trunkenheit am Steuer, Betrug oder Beleidigung. Aber auch Mord, schwerer Raub, Volksverhetzung, Körperverletzung und Brandstiftung sind dabei.

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Illustration: Daavid Mörtl (Illustration: Daavid Mörtl)
(Illustration: Daavid Mörtl)

Die Ende Dezember letzten Jahres veröffentlichten Zahlen stammen aus einer Antwort auf eine sogenannte „Kleine Anfrage“ der Grünen-Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic. Detailliert listet das Innenministerium darin auf 22 Seiten die Gründe für die 466 Haftbefehle, verteilt auf 372 Straftäter, auf. 70 Haftbefehle beziehen sich auf politisch motivierte Straftaten, 98 auf Gewalttaten. Stand: 23. September 2015.

„Scheinbar gibt es in Deutschland eine große Zahl gewaltbereiter Neonazis, die unter dem Radar der Sicherheitsbehörden existieren“, sagt Mihalic. Nach den Erfahrungen mit den Rechtsterroristen des NSU sei das alles andere als beruhigend.  „Ich habe die große Sorge, dass Neonazis im Untergrund schwerste Verbrechen begehen und wir es wieder nicht mitbekommen“, erklärt die Politikerin.

Auffallend ist, dass die Zahl der flüchtigen Rechtsextremen offenbar steigt

372 untergetauchte Neonazis, die für die Sicherheitsbehörden nicht zu greifen sind? Wie kann das sein? Auffallend ist, dass die Zahl der flüchtigen Rechtsextremen offenbar steigt. 2012 hatte die Linksfraktion eine gleichlautende Anfrage gestellt. Damals waren es „nur“ 266 Rechtsextreme, die sich ihrer Verhaftung entzogen hatten. Zwar wurde im Frühjahr 2013 nach rund 80 von ihnen nicht mehr gesucht, weil sie gefasst worden waren oder die Verfahren eingestellt wurden, doch jede Woche kommen wieder neue Haftbefehle hinzu, die wiederum nicht vollstreckt werden.

Bei insgesamt 259 Tätern sei zum Erhebungsstichtag am 23. September 2015 der Aufenthaltsort unbekannt gewesen, heißt es vom Innenministerium. „Aus einem unbekannten Aufenthaltsort lässt sich aber nicht generell ableiten, dass der Täter untergetaucht ist“, betont Ministeriumssprecher Johannes Dimroth. Bereits ein Umzug ohne Ummeldung reiche aus, dass ein Haftbefehl nicht vollstreckt werden könne.

Die wenigen besonders gefährlichen Täter werden mit allen Mitteln gesucht

Spricht man mit Polizisten, die für die rechtsextreme Szene zuständig sind, hört man, die allermeisten Flüchtigen würden nach kurzer Zeit gefasst. Meist bei Routinekontrollen oder an Grenzübergängen. Eine richtige Zielfahndung sei aber bei kleineren Straftaten nicht leistbar. Die Fahndungsdifferenzierung erfolgt anhand der dem Haftbefehl zugrunde liegenden Straftat nach einem dreistufigen Modell: Die höchste Prioritätsstufe gilt für Terrorismusdelikte, danach kommen Gewaltdelikte. Die niedrigste Priorität haben die sonstigen Straftaten.

Nach den wenigen besonders gefährlichen Tätern von der Liste werde mit allen Mitteln gesucht, heißt es. Davon abgesehen seien offene Haftbefehle keineswegs ungewöhnlich. Tatsächlich ist die Gesamtzahl aller flüchtigen Straftäter in Deutschland sehr hoch. Zum Stichtag 4. Januar 2012 zählte die Bundesregierung in ganz Deutschland 144.107 nicht vollstreckte Haftbefehle. Die Haftbefehle gegen Neonazis machen demnach weit weniger als ein Prozent aus.

Sicherheitsbehörden betreiben viel Aufwand, um ihre Strukturen neu zu organisieren

Dass es seit 2012 eine offizielle Liste mit offenen Haftbefehlen gegen Rechtsextreme gibt, ist ein Resultat aus den Fehlern bei der Fahndung nach den späteren NSU-Terroristen. Als 2011 nach dem Auffliegen des NSU nach möglichen weiteren Komplizen gesucht wurde, kam heraus, dass bei den Landeskriminalämtern nicht alle Rechtsextremen einheitlich in den Datenbanken gekennzeichnet wurden. So wurden eindeutige Delikte wie der Hitlergruß in manchen Fällen nicht als politisch motiviert gekennzeichnet und der Täter somit auch nicht als rechtsextrem geführt.

Die Einordnung von Personen als rechtsextrem geschieht über die sogenannte PMK-rechts-Definition für politisch motivierte Kriminalität von 2001. Wer Straftaten begeht, die unter die PMK-rechts fallen, kommt in die Datei rechtsextremer Straftäter. Das funktioniert aber nur, wenn die Polizei diese auch entsprechend meldet. Die Sicherheitsbehörden betrieben seit dem NSU-Skandal viel Aufwand, um ihre Strukturen neu zu organisieren und dafür zu sorgen, dass rechtsextreme Delikte auch als solche erkannt beziehungsweise dokumentiert werden.

Verfassungsschutz warnte zuletzt vor der Bildung neuer rechtsterroristischer Gruppen

Neben dem länderübergreifenden „Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus“, das die Kooperation und Koordination der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus verbessern soll, wurde auch eine Verbunddatei zur rechtsextremen Szene eingerichtet. Knapp 40 deutsche Sicherheitsbehörden haben Zugriff auf die Datei und sind gleichzeitig verpflichtet, sie ihrerseits zu pflegen und anzureichern.

Der Verfassungsschutz warnte zuletzt vor der Bildung neuer rechtsterroristischer Gruppen. Mit „Oldschool Society“ wurde im Mai 2015 eine zwar dilettantisch vorgehende, aber durchaus gefährliche rechtsextreme Gruppe gefasst, die terroristische Angriffe wie Sprengstoffanschläge plante. Und die Gewaltbereitschaft steigt weiter. 2015 wurden nach vorläufigen Zahlen der Sicherheitsbehörden 13.846 rechtsextreme Straftaten verübt, darunter 921 Gewaltdelikte. Das sind über 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Sorge macht den Ermittlern besonders die Zunahme von Sprengstoffdelikten

Mehr als 1.000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zählt das Bundeskriminalamt im gesamten Jahr 2015. Sorge mache den Ermittlern besonders die Zunahme von Sprengstoffdelikten. Bei 13 Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte wird wegen des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion oder Vergehens gegen das Sprengstoffgesetz ermittelt.

Ob hier auch Rechtsextreme beteiligt waren, gegen die nicht vollstreckte Haftbefehle vorliegen, ist unklar. Klar ist aber: Die NSU-Terroristen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt flüchteten, weil sie wegen der „Vorbereitung einer Sprengstoffexplosion“ gesucht wurden, und begannen erst aus dem Untergrund heraus mit ihrer Mordserie.