Wenn es um die EU geht, haben die meisten Menschen reflexartig zwei Ressentiments: Erstens, die EU ist ein Bürokratiemonster, zu nichts anderem da, als einen Abnutzungskrieg gegen den gesunden Menschenverstand zu führen. Zweitens, die EU ist unermüdlich dabei, nationale Identitäten im Säurebad einer abstrakten europäischen Identität aufzulösen. Mit diesen Argumenten wird in allen EU-Ländern von antieuropäischen Polemikern Politik gemacht. Aber stimmt das? Ja und nein.

Gerade das Lebensmittelrecht der EU hat zu solchen Befürchtungen zweifellos beigetragen. Am Anfang stand, ganz klar, die Gurke. Die Gurke ist der ewige Begleiter aller EU-Politiker, das saure Gegenstück zum süßen Euro. Und die Gurke ist der Evergreen der Anti-EU-Polemiker, genauer: die »Verordnung (EWG) Nr.1677/88 der Kommission vom 15. Juni 1988 zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken«. Wahrscheinlich gibt es keine Verordnung, die dem Image der EU als Bürokratiemonster, als kafkaeske Beamtenfreakshow so förderlich war, wie diese.

Mehrere Dutzend Qualitätsnormen und Kriterien widmete die damalige Europäische Gemeinschaft der Gurke. Dort wird zum Beispiel festgelegt: »Die Gurken müssen genügend entwickelt, die Kerne jedoch noch weich sein.« Und so geht das munter weiter, die philosophisch-ästhetischen Betrachtungen zur EU-Gurke, bis die Sätze kommen, die sich zum Klassiker entwickelt haben: Die EU-Gurke müsse »ziemlich gut geformt und praktisch gerade sein (maximale Krümmung: 10 mm auf 10 cm Länge der Gurke)«.

Man muss heute sagen: Ja, so war das mit der EU. Neben der Gurken- Vorschrift gab es Ähnliches für Zucchini, Möhren, Lauch, Spargel, Aprikosen und vieles mehr. Indes: Vom 1. Juli 2009 an sind diese Vorschriften entfallen. Gut. Schlecht: Viele Obstsorten dürfen weiterhin nicht so wachsen, wie sie wollen. Aufrechterhalten werden nämlich die Vorschriften für die in Europa umsatzstarken Obst- und Gemüsesorten, z. B. Äpfel, Erdbeeren und Tomaten. Die einzelnen EU-Staaten können aber eine Abweichung von der Norm erlauben, sofern eigenwillig geformte Früchte etwa als »zur Verarbeitung bestimmt« gekennzeichnet werden.

Und wie ist das mit der Gleichmacherei, mit dem Schleifen nationaler Identitäten? Will die EU den Franzosen ihren Wein verpanschen und den Deutschen ihr Bier? Die EU sieht sich als Freihandelszone. Es geht also weniger darum, Deutschen ihr Bier und Franzosen ihren Wein zu verpanschen, es geht darum, dass nationale Vorschriften nicht andere Wettbewerber behindern sollen. Beispiel deutsches Reinheitsgebot: Nach einer über dreijährigen Auseinandersetzung fällte der Europäische Gerichtshof am 12. März 1987 sein »Reinheitsgebotsurteil«. Biere, die in anderen Mitgliedsländern der EU rechtmäßig hergestellt oder »verkehrsfähig« waren, erlangen diese »Verkehrsfähigkeit« auch auf dem deutschen Markt – unabhängig davon, ob sie entsprechend den strengen Vorschriften des Reinheitsgebotes hergestellt werden oder nicht. Einziges Zugeständnis: Bei Abweichungen vom Reinheitsgebot müssen alle dem Reinheitsgebot fremden Stoffe im Zutatenverzeichnis deutlich erkennbar angegeben werden. Bier ist also auch das belgische Fruchtbier.

Ähnliche Liberalisierungen gibt es für viele Lebensmittel. Indes verbietet die EU weniger strenge oder traditionelle Standards, sie öffnet tendenziell eher Märkte für Mitbewerber, die mit jeweils weniger strengen Regeln operieren. Daran zeigt sich der eigentliche Charakter der EU als Wirtschaftsverbund, in dem Handelsgrenzen abgebaut werden sollen. Gezwungen, minderwertige Lebensmittel zu essen, wird aber niemand. Der EU-Konsument wird als mündiger Einkäufer gesehen, der sich selbst informiert.

Doch wie wird überhaupt produziert, was später in Vorschriften reglementiert wird? Hier kommen die Agrarsubventionen ins Spiel. Sie haben nicht nur Auswirkungen auf die Produktionsweise in der EU, sie haben Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion und die Lebensweise von Menschen in der ganzen Welt. Jeder EU-Bürger zahlt im Jahr durchschnittlich 250 Euro an Steuern in die Kasse der Europäischen Union. Davon fließen rund 100 Euro allein in den klassischen Agraretat. Das sind mehr als ein Drittel des EU-Gesamtetats, insgesamt etwa 43 Milliarden Euro. In Deutschland gehen jährlich mehr als fünf Milliarden Euro an EUAgrarsubventionen als Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe. Die Subventionen kommen vor allem wenigen Großbetrieben zugute, die eine industrialisierte und rationalisierte Landwirtschaft auf großer Fläche betreiben. Auf 0,5 Prozent der Betriebe entfällt in Deutschland ein Fünftel der Subventionen in Höhe von jeweils mehr als 300.000 Euro. Dagegen bekommen 70 Prozent der Bauernhöfe in Deutschland im Schnitt weniger als 10.000 Euro Subventionen im Jahr.

Dazu kommen Exportsubventionen, mit denen die Preise von europäischen Landwirtschaftsprodukten für den Weltmarkt häufig auf ein Niveau unterhalb der Produktionskosten gedrückt werden. Diese gefährden auch in den Ländern des Südens die Existenz vieler Kleinbauern. Subventionierte europäische Importe überschwemmen mit Dumpingpreisen die dortigen lokalen Märkte und verdrängen die Erzeugnisse heimischer Produzenten. Die regionale Lebensmittelproduktion bricht daher vielerorts zusammen. Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat diesen Subventionswahnsinn für die EU-Milchproduktion einmal anhand der Exporte in die sogenannten AKP-Staaten, die Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, und in Entwicklungsländer aufgeschlüsselt. 68 Prozent der Milchexporte der EU gingen 2007 in Entwicklungsländer, darunter 24,6 Prozent allein nach Afrika.

Ein Beispiel für die Folgen der Exportsubventionen: In Bangladesch wurde ein mehrjähriges Programm von der FAO (Food and Agriculture Organization der UN) zum Aufbau der Milcherzeugung aufgelegt. Seit Jahresbeginn 2009 exportieren europäische Molkereien nun Milchpulver zu Schleuderpreisen in das von Naturkatastrophen gebeutelte Land. Das bedroht die Existenzen der Milchbauern dort. Ähnlich wie bei der Milch sieht es auch bei anderen Lebensmitteln aus: Für Getreide plante die EU-Kommission für 2009 62 Millionen Euro Fördermittel ein, für den Export von Zucker werden dieses Jahr 440 Millionen Euro und für Geflügel 91 Millionen Euro ausgegeben. Die Welthandelsorganisation (WTO) hat dazu eine eigene Meinung: keine gute. Nämlich die, dass EU-Exportsubventionen den Weltmarkt kaputt machen und verhindern, dass ärmere Länder am Markt bestehen können (siehe auch Interview S. 5). Nach Berechnungen der Weltbank aus dem Frühjahr 2008 sind die Preise für Nahrungsmittelvon Anfang 2005 bis Februar 2008 um 83 Prozent gestiegen, Weizen legte sogar um 181 Prozent zu. Daher sind die EU-Subventionen gar nicht mehr notwendig. Die Exportzuschüsse auch nicht, die nur dazu dienen, die Nahrungsmittelproduktion in der EU konstant zu halten.

Das Problem ist erkannt: Die sogenannte Doha-Runde (Wirtschaftsund Handelsminister der WTO-Mitgliedstaaten 2001) will alle Exportsubventionen abschaffen. Bis 2013. Bis dahin werden noch einige Bauern außerhalb Europas vom Markt verdrängt. Denn die EU hat ihr Milchpulver noch lange nicht verschossen.

Jost Kaiser (40) war Mitarbeiter der »Süddeutschen Zeitung« und Politik-Redakteur bei »Vanity Fair«, zurzeit arbeitet er als freier Autor und Blogger in Berlin.