»Solidarisch sein erhöht unseren Status. Eindrucksvoll war dieser Mechanismus beim Elbehochwasser zu beobachten«, sagt Karl Grammer. 

Herr Grammer, ich bin Mitglied bei Amnesty International, dabei bin ich nicht selbst politisch verfolgt. Warum überweise ich dennoch jeden Monat Geld? 

Früher hätte man aus biologischer Sicht geantwortet: Sie versuchen das Überleben Ihrer Art zu sichern.

Und heute...

...glaubt man, dass diese Erklärung zu kurz greift. Schließlich verhalten Sie sich nicht solidarisch mit allen Menschen. Denken Sie nur daran, wie rücksichtslos sich viele Menschen im Straßenverkehr benehmen. Die Frage, die hinter der Solidarität steckt, lautet ganz simpel: Warum helfen wir einem anderen Menschen oder setzen uns für ihn ein?

Gibt es eine Antwort? 

Momentan gibt es aus biologischer Sicht sogar zwei. Die eine lautet: Wir helfen anderen Menschen, um die Verbreitung und Erhaltung unserer Informationen zu sichern. Vorzugsweise unterstützen wir Menschen, die wir aufgrund unterschiedlicher Merkmale wie Verwandtschaftsgrad oder Aussehen als ähnlich einstufen. Wer ähnlich ist, so denken wir, trägt auch Teile unseres Erbguts in sich.

Und die zweite Theorie? 

Die besagt, dass wir uns beim Helfen daran orientieren, ob wir von der Person in der Zukunft auch Hilfe erwarten können. „Reziprozität“ nennt sich dieses Prinzip.

Nun spende ich Geld an Amnesty, glaube aber nicht, dass mir der politische Gefangene in Simbabwe oder China sehr ähnlich ist. Auch bezweifle ich stark, dass er mir einmal helfen kann. 

Richtig. Trotzdem tun Sie es, und zwar aus einem einfachen Grund: Solidarisch sein wirkt belohnend. Außerdem erhöht es unseren Status. Nur wer stark ist, kann andere unterstützen. Eindrucksvoll war dieser Mechanismus beim Elbehochwasser zu beobachten. Tausende von Deutschen fuhren nach Ostdeutschland und halfen mit, Sandsäcke zu schleppen. Gerade wenn man die Belohnungen sehr einfach und sicher bekommen kann, werden viele Menschen aktiv. Geholfen hat in diesem Zusammenhang auch, dass die Bild-Zeitung die mutigen Helfer interviewt und gezeigt hat. Biologisch gesehen, ist das ein genialer Mechanismus: Denkt man an das Prinzip der Reziprozität, muss schließlich irgendwer anfangen mit dem Helfen. Deshalb hat die Natur es eingerichtet, dass derjenige, der hilft, sich besser fühlt.

Wir sind solidarisch aus Kalkül? 

Das klingt nun sehr negativ, wie Sie es ausdrücken. Aber aus biologisch-reduktionistischer Sicht betrachtet, liegt dem Helfen immer eine oft unbewusste Kosten-Nutzen-Rechnung zugrunde. Das gilt im Übrigen für jede menschliche Handlung.

War das schon immer so? 

Seit der Mensch in Gruppen lebt – aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Ab diesem Zeitpunkt musste er stets überlegen, ob er seine Ziele besser durch kooperierend-solidarisches oder durch wettbewerbsorientiert-egoistischeres Handeln erreicht.

Ist Solidarität eine menschliche Erfindung, oder kann man sie auch im Tierreich finden? 

Das ist eine Frage des Standpunkts. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, es gebe kein solidarisches Verhalten unter Tieren, da tierisches Verhalten immer egozentriert ist. Andere sprechen Tieren solidarisches Verhalten zu – schließlich handelt ja der Mensch, der Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellt, ganz ähnlich ichbezogen. Grundvoraussetzung für solidarisches Verhalten bei Tieren ist die Fähigkeit, das Prinzip der Reziprozität anwenden und Verwandte identifizieren zu können. Dazu sind bestimmte geistige Fähigkeiten vonnöten, die planvolles Verhalten möglich machen. Diese findet man nicht bei Amöben. Bei Affen allerdings ist Solidarität in diesem Sinne beobachtbar. Etwa wenn sie kooperatives Verhalten auf der Jagd oder beim Kämpfen um die Rangfolge zeigen.

Wie entwickelt sich die Fähigkeit zum solidarischen Verhalten beim Menschen? Können sich schon Kleinkinder solidarisch verhalten?

Meine Untersuchungen zu dem Thema liegen schon einige Jahre zurück, und insbesondere die experimentelle Psychologie hat dazu in den letzten Jahren viele Erkenntnisse geliefert. Generell gilt aber etwas Ähnliches wie bei den Tieren: Um Solidarität zu zeigen, brauchen Kinder ebenfalls bestimmte kognitive Fähigkeiten. Diese sind bei der Geburt noch nicht vorhanden und entwickeln sich erst vergleichsweise spät, nach einigen Jahren. Dann erst ist das Kind zu Dingen wie planvollem Handeln und einer Perspektivenübernahme fähig, sprich, es kann sich vorstellen, was im Kopf eines anderen Kindes vor sich geht. Man geht davon aus, dass Moralentwicklung bei Kindern eng einhergeht mit der Fähigkeit zur Solidarität.

Menschen unterscheiden sich stark hinsichtlich ihres solidarischen Verhaltens. Liegt das daran, dass wir Kosten und Nutzen unterschiedlich berechnen?

Das tun wir sicherlich. Leider steckt die Forschung, die diese interindividuellen Unterschiede untersucht, noch in den Anfängen. So ist es plausibel, dass Frauen eher zu solidarischem Verhalten tendieren, da sie evolutionsbedingt generell sozialere Wesen sind – die These ist aber noch nicht belegt. Interessant ist auch, dass wir uns je nach Situation sehr unterschiedlich solidarisch verhalten.

Woran liegt das? 

Ein Faktor ist die Anonymität. Denken Sie noch einmal an den Straßenverkehr: Weil die meisten sicher sein können, dass der andere sie nicht erkennt und sie ihn auch nicht wieder treffen, nehmen sie keine Rücksicht. Ein anderer Faktor ist die Vorhersehbarkeit: Wenn ich nicht weiß, wie lange ich mit dem anderen noch zu tun habe, hat das Einfluss auf meinen Solidaritätswillen.

Wir leben in einer zunehmend individualisierten, aber auch anonymisierten Gesellschaft. Wir kennen unsere Nachbarn nicht mehr, Beziehungen, Arbeitsplätze sind unsicherer als früher. Was bedeutet das für die Solidarität in einer Gesellschaft? 

Was man sicherlich sagen kann: Je höher die Anonymität in einer Gesellschaft, desto gerin-ger die Solidarität. Doch zu behaupten: Weil Beziehungen und Arbeitsplätze unsicherer sind, verhalten sich die Menschen weniger solidarisch – die Ich-Gesellschaft als logische Antwort auf die Unvorhersehbarkeit der Zukunft, das wäre mir zu gewagt. Dafür sind soziale Beziehungen am Ende zu komplex. Außerdem ist der Mensch ja klug: Nicht umsonst haben wir uns jede Menge Regeln und Normen geschaffen, die unsolidarisches Verhalten als schlecht, solidarisches hingegen als gut betrachten. Durch diese Bewertung steigt der Nutzen von hilfsbereitem Verhalten. Die Tendenz, sich aufgrund der Unplanbarkeit von Beziehungen weniger solidarisch zu verhalten, würde mit einem schlechten Gewissen geahndet. Experimente deuten darauf hin, dass sich im Lauf der Evolution ein angeborener Gerechtigkeitssinn entwickelt hat.

Unterscheidet uns das von Tieren? 

Bei Tieren gibt es viel striktere Regeln, nach denen Solidarität abzulaufen hat. Eine lautet zum Beispiel: Als Erstes kommen immer die Verwandten. Bei uns Menschen hat es sich gelockert, wen wir „als einen von uns“ identifizieren. Nach welchen Mechanismen das verläuft, dazu gibt es sehr eindrucksvolle Experimente. Bei einem setzt man Versuchspersonen vor ein Computerspiel und zeigt ihnen ein Foto von ihrem angeblichen Mitspieler im Nachbarraum. Je mehr man nun das eige-ne Gesicht der Versuchspersonen mithilfe digitaler Bildbearbeitung in das Bild des Mitspielers einfließen lässt, umso solidarischer und kooperativer spielen die Versuchspersonen. Völlig unbewusst.

Diverse Mechanismen motivieren die Menschen also zu solidarischem Verhalten, und es gibt bestimmte Regeln, nach denen sich entscheidet, wem gegenüber wir besonders solidarisch sein wollen. Dennoch gibt es Krisenzeiten, ausgelöst durch Naturkatastrophen oder Hunger, da werden alle diese Regeln anscheinend plötzlich außer Kraft gesetzt und Menschen fangen an zu plündern und zu morden. 

Wenn jemand meint, sein Ende droht, dann gibt es für die meisten keine Solidarität mehr. Wozu auch?

Professor Karl Grammer, 57, ist Verhaltensforscher und Evolu-tionsbiologe. Seine Doktorarbeit schrieb er zum Thema »Das Eingreifen in Konflikte unter Kindergartenkindern«.