Sozialtherapeutische Anstalt Hohenasperg, rund 20 Kilometer nördlich von Stuttgart. Ein alter Festungsbau aus dem 16. Jahrhundert thront auf dem 90 Meter hohen Keuperberg über einer Kleinstadt; dicke, alte Steinmauer, Stahltore und hohe Drahtzäune. Der höchste Berg des Landes, heißt es: Man brauche nur Minuten, um hochzukommen – aber Jahre, um wieder hinunterzugelangen. Denn seit dem 19. Jahrhundert dient die Festung als Gefängnis, seit 1975 ist hier die Sozialtherapeutische Anstalt Baden- Württemberg untergebracht. Von den 60 Insassen sind neun Sicherungsverwahrte, hier schlicht SVler genannt. Das heißt: Obwohl sie ihre Strafe abgesessen haben, kommen sie nicht raus. Die Sicherungsverwahrung wurde 1933 eingeführt, sie steht im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“. Anders als Haft- oder Bewährungsstrafen, die von einem Gericht als Buße für ein konkretes Verbrechen verhängt werden, steht sie in keinem direkten Zusammenhang mit der Schuld der Täter und wird zusätzlich zur Haftstrafe angeordnet. Sie dient dazu, die Gesellschaft vor Tätern zu schützen, die auch nach Verbüßen ihrer Strafe als gefährlich angesehen werden. Und soll auch diesen Tätern die Möglichkeit der Verhaltensänderung und damit im Idealfall letztendlich der Resozialierung bieten.

Frank T. ist ein SVler. Beinahe sein gesamtes erwachsenes Leben hat der heute 38-Jährige in Haftanstalten verbracht. Er hat blaue Augen, sein Haar ist kurz geschnitten. Er ist groß und schlank, 1,94 Meter, früher hat er geboxt und Bodybuilding betrieben, draußen, als er im Rotlichtmilieu Leibwächter und Zuhälter war. Noch heute ahnt man, wie einschüchternd er gewirkt haben muss. Wenn er von seinem, wie er es nennt, „verpfuschten Leben“ spricht, verschränkt er die Arme vor der Brust. So, als wolle er sich schützen vor der Erinnerung. Oder vielleicht ist es sein Gegenüber, das er schützen will. Vor diesem Menschen, der er war und nicht mehr sein will. Am 8.12.1992 wurde er zum ersten Mal inhaftiert, Raubüberfall mit Geiselnahme und Freiheitsberaubung, fünf Jahren Jugendhaft lautete das Urteil. Da war er 19. „Ich hatte immer Probleme mit Autoritäten, ich habe jede Kritik persönlich genommen, mir nichts sagen lassen“, sagt er. Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder Mitte 2001 in der „Bild am Sonntag“ fordert, Sexualstraftäter solle man „wegschließen – und zwar für immer!“, sitzt Frank T. in der Justizvollzugsanstalt Freiburg. Er ist gerade Ende zwanzig und zu sechs Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt: Raubüberfall mit Geiselnahme und Freiheitsberaubung, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch von Minderjährigen, illegaler Besitz von Kriegswaffen, Waffenhandel, Drogenhandel, Gefangenenbefreiung, die Liste seiner Straftaten ist lang.

„Damals“, sagt T., „war ich davon überzeugt, dass nicht nur der größte Teil meiner Lebensgeschichte im Knast geschrieben wird, sondern dass sie hier enden wird.“ 1998 wurde das bis dahin gültige Höchstmaß von zehn Jahren für Sicherungsverwahrung gestrichen, sie war von nun an unbefristet. Das galt auch rückwirkend, also auch für T. Sicherungsverwahrung erschien ihm und seinen Mitgefangenen als „Todesstrafe auf Raten“. T. hat sich entschieden, das stumpfe, perspektivlose Dahinvegetieren gegen die letzte Chance auf ein anderes Leben zu tauschen. Nach einer Wartezeit von knapp zwei Jahren wurde er in die Sozialtherapie verlegt. Täglich absolviert er Therapiestunden. Gruppen- und Einzeltherapie, Ergotherapie; Anti-Aggressionstraining, Opferempathie, Rückfallprävention, Kommunikation, Stressmanagement, Selbst- und Fremdwahrnehmung, sexuelle Fantasien – das Konzept ist vielfältig und anspruchsvoll. „Die 17 Monate, die ich hier bin, sind die härtesten meiner gesamte Knastzeit“, sagt er. Zum ersten Mal ist er gezwungen, sich den Spiegel vorzuhalten, über seine Taten und vor allem seine Opfer nachzudenken. An manchen Tagen war er so voller Selbsthass und Ekel, dass er sich nicht aus seiner Zelle wagte. „Mir wurde klar, was ich für ein Schwein gewesen bin, was ich den Menschen Abscheuliches angetan habe. Manchmal dachte ich, ich habe gar keine Therapie verdient.“

„Im besten Fall“, sagt Christine Ermer, Psychotherapeutin und Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg auf dem Hohenasperg, „kann die Sozialtherapie ein Sprungbrett in die Freiheit sein.“ Der Weg nach draußen besteht aus vielen Schritten, die alle engmaschig therapeutisch begleitet werden. Ein Risiko gibt es natürlich trotzdem, kein Therapeut kann eine sichere Prognose abgeben. „Dieses Risiko müssen wir, unter sorgfältiger Abwägung, eben eingehen“, sagt sie. Kritiker sagen, dass sich die Politik zu lange auf das Wegsperren und Verwahren verlassen und die Schaffung von Therapieangeboten vernachlässigt hat. Tatsächlich ist die Sicherungsverwahrung in den vergangenen Jahrzehnten stetig verschärft und ausgeweitet worden: Kam sie anfangs bei schweren und wiederholten Gewalt- und Sexualdelikten zur Anwendung, wurde sie in den folgenden Jahren auch bei Betrugsdelikten angeordnet, bei Heiratsschwindlern und Dieben und schließlich bei Jugendlichen und bei Ersttätern. Seit 2004 kann die Sicherungsverwahrung auch nachträglich, Jahre nach dem eigentlichen Urteil, angeordnet werden. Mit der Folge, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten in den deutschen Gefängnissen in den letzten Jahren deutlich anstieg, auf etwas mehr als 500.

Im Dezember 2009 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die nachträgliche Verlängerung der vor 1998 auf eine Höchstdauer von zehn Jahren begrenzten Sicherungsverwahrung für nicht vereinbar mit den Menschenrechtskonventionen, Anfang 2011 wurde auch die Praxis der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung bemängelt. Rund 100 in deutschen Gefängnissen einsitzende Schwersttäter müssten nach dem Willen der EU-Richter freigelassen werden. Ende vergangenen Jahres hat das Justizministerium reagiert und eine Reform vorgelegt: Im „Therapieunterbringungsgesetz“ wird die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gestrichen. „Psychisch gestörte“ Täter, die von zwei unabhängigen Gutachtern als weiterhin gefährlich angesehen werden, können in geeigneten geschlossenen Therapie-Einrichtungen untergebracht werden. Der Deutsche Anwaltverein hält es für zweifelhaft, ob diese „Sicherungsunterbringung“ den Straßburger Maßstäben standhält. Das neue Gesetz sei erkennbar darauf ausgerichtet, die Straßburger Rechtsprechung zu unterlaufen.

Seit diesem Februar beschäftigt sich nun das Verfassungsgericht in Karlsruhe mit dem Thema und muss entscheiden, wie deutsche Gerichte mit dem Urteil aus Straßburg umgehen. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle befand zu Beginn der Anhörung, der EGMR habe die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung nur unzureichend in den Blick genommen, kritisierte aber gleichzeitig die Bundes- und Länderregierungen, sie hätten es versäumt, in der Vergangenheit ausreichende Therapie- und Resozialisierungsangebote zu schaffen. Die Fachleute diskutieren ausgiebig. „Die meisten Straftaten werden von Ersttätern begangen“, gab Renate Jaeger, bis 2010 deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu Protokoll, die Fixierung der öffentliche Sorge auf eine kleine Gruppe von Haftentlassenen sei nicht rational. Auch der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Kinzig befürwortet die Entscheidung aus Straßburg, er vertritt die Ansicht, dass nur ein kleiner Teil derer, die mit schlechter Prognose entlassen werden – gerade unerfahrene Gutachter neigten eher zu negativen Beurteilungen –, tatsächlich wieder rückfällig werden. Der größere Teil würde zu Unrecht weggesperrt, die Chance auf Bewährung und Rehabilitation würde ihnen verwehrt.

Michael Osterheider, Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Regensburg, sieht die Situation differenziert. „Von den schweren Sexualstraftätern, mit denen wir arbeiten, ist ungefähr die Hälfte nicht therapierbar“, sagt er. „Straftäter, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach der Haft weitere Straftaten begehen, laut Prognose hoch ist, müssen sicher untergebracht werden können.“ Die Urteile aus Straßburg, sagt er, sind für ihn „nachvollziehbar, was die Rechtssicherheit für die Betroffenen angeht, andererseits greifen sie zu kurz. Zahlreiche Täter sind nach jahrzehntelanger Strafhaft gar nicht in der Lage, sich selbstständig ohne Hilfe in die Gesellschaft zu reintegrieren. Einfach unvorbereitet auf die Straße setzen ist da keine Lösung. Diese Menschen müssen aufgefangen werden.“ Das Beispiel Frank T. zeigt, wie wichtig solche Einrichtungen sind, für den Täter und die Gesellschaft. „Wer zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde, kann sich zumindest auf das Ende vorbereiten, hat eine Perspektive. Wir wussten nicht, ob wir jemals rauskommen. Wir hatten nichts mehr zu verlieren, dachten, wir verrecken eh hier drin.“ Nun hat sich seine Situation geändert. Die Hoffung auf ein Leben, das nicht im Gefängnis endet, ist zurückgekehrt. Für T. ein unerhörter Gedanke.