Wenn man von Russland aus in den Osten reist, erreicht man verschiedene Länder: Von Wladiwostok aus geht’s nach Japan, von Sachalin aus käme man an die Westküste der USA, und wer in Magadan das Schiff besteigt, um über den Pazifik zu fahren, würde in Kanada landen. Nordamerika mag für Deutsche ein wesentlicher Teil der westlichen Hemisphäre sein, für Russland ist es der Ferne Osten, der so fern gar nicht ist: An der Beringstraße liegen Russland und Alaska nur rund 85 Kilometer auseinander, und es gab in den vergangenen Jahrzehnten Überlegungen, eine Brücke oder einen Tunnel zu bauen.

Diese Perspektive ist auch für Russland neu. Wenn bislang von Moskaus Ostpolitik die Rede war, meinte man China oder andere Länder Asiens, denen man sich zugewandt hat, um die zunehmend schlechteren Beziehungen zu Europa auszugleichen. Denn der Schwenk nach Osten ist vor allem ein Abrücken vom Westen: Die unterkühlten Beziehungen zu Europa lassen einen eurasischen Wirtschaftsraum attraktiv erscheinen – am besten einen unter Moskaus Führung. Wobei man im Kreml hofft, durch eine engere Verbindung zum Wirtschaftsgiganten China selbst Macht zurückzugewinnen.

Doch es sieht ganz so aus, als lohne sich diese Allianz nur für China, das aus Russland günstig Rohstoffe für seine Industrien importiert. Genau diese Abhängigkeit von Rohstoffen hat Russland das derzeitige Dilemma beschert. Der Öl- und Gasreichtum hat die russische Wirtschaft träge gemacht, in den Aufbau anderer Industriezweige wurde viel zu wenig Geld gesteckt. Der derzeit niedrige Ölpreis verdirbt die Bilanzen.

Russland ist für China ein riesiger Absatzmarkt und gleichzeitig das gelobte Land der billigen Rohstoffe. Die Waren, die Russland selbst nicht mehr produziert, werden zu einem großen Teil aus China eingeführt. Zugleich hat China kein Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung Russlands. Im Gegensatz zu manchen europäischen Staaten, die Russland gern mit Maschinen beliefern würden.

Finanzielle Ressourcen, mit denen sich das ländliche Russland entwickeln ließe

In diesem Dilemma bietet sich Russland eigentlich nur eine vernünftige Perspektive: Sein Potenzial liegt am Pazifik. Handelsbeziehungen zu anderen Pazifikanrainern wie Kanada, den USA, Mexiko und den Ländern Lateinamerikas sind vielversprechender als die einseitige Beziehung zu China. Die Länder, die in Russlands Osten liegen, sind technologisch gut entwickelt und haben finanzielle Ressourcen, mit denen sich die ländlichen Regionen Russlands entwickeln ließen. In dem Maße, wie China zur wirtschaftlichen Supermacht aufsteigt, werden sich diese Länder neue Partner in Asien suchen – und das rohstoffreiche Russland ist da keine schlechte Option. Die USA, Japan und Kanada könnten bei der Erschließung Sibiriens helfen. 

Europa hat nach 1991 den Fehler gemacht, Russland nicht in seine politischen und wirtschaftlichen Strukturen zu integrieren. Russlands Antwort darauf war die Rückbesinnung auf imperiale Verhaltensmuster, die letztlich auch zum Krieg in der Ostukraine geführt haben. Auch der Westen sollte Interesse daran haben, dass sich Russland wirtschaftlich so entwickelt, dass es diese chauvinistische Art der Politik nicht nötig hat. Europa und die USA sollten Russland im Pazifikraum eine wesentlich größere Rolle zu-billigen, der Zeitpunkt dafür könnte bald kommen. Dann nämlich, wenn Russland merkt, dass es mit der derzeitigen Annäherung an China nichts gewinnen kann.

Yulia Zhuchkova ist Mitarbeiterin des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau, Wladislaw Inosemzew ist dessen Direktor und seit März Gastwissenschaftler bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. 

Foto: Sergey Orlov