Worum geht‘s?
Frankreich um 1940: Georg (Franz Rogowski) ist auf der Flucht vor den deutschen Besatzern. In Paris gelangt er per Zufall an die Papiere des toten Schriftstellers Weidel, dem ein Visum für Mexiko zugesichert wurde. Mit falscher Identität fährt er deshalb nach Marseille, um die Flucht per Schiff fortzusetzen. Dort wird er für kurze Zeit zum Ersatzvater für den Jungen Driss, Sohn eines verstorbenen Freundes. Doch Georg möchte seine Haut retten, bevor die Faschisten auch die Küstenstadt nach Regimegegnern durchkämmt und sie verhaftet, deportiert oder ermordet. In Konsulaten, Bars und Hotels trifft er auf andere Flüchtende, die sein Schicksal teilen – und doch jeder für sich leiden. Schließlich begegnet er auch Marie (Paula Beer), der Frau von Weidel, die verzweifelt auf der Suche nach ihrem Mann ist. Georg will ihr helfen, sein Geheimnis aber möglichst für sich behalten.
Was zeigt uns das?
Natürlich setzt sich Christian Petzold auch mit dem Thema Flucht auseinander, weil es in den letzten Jahren eine besondere Dringlichkeit erlangt hat. Mit der historischen Geschichte schlägt er aber keinen Eins-zu-eins-Abgleich mit der Gegenwart vor. Als Fluchtbeschreibung bleibt der Film abstrakt, zeigt weder den Aufbruch von Zuhause noch das Ankommen in der Fremde, sondern nur das Dazwischen: den titelgebenden Transit. Dabei spielt der Verlust geliebter Menschen, die schmerzhafte Schuld, jemanden zurückgelassen zu haben, eine größere Rolle als der vielerorts willkürlich besetzte Begriff „Heimat“.
Wie wird’s erzählt?
Mit einem Kunstgriff, der verblüffend gut funktioniert. Wie im Roman von Anna Seghers spielt die Geschichte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Frankreich wird gerade von den Deutschen besetzt, die Exilanten brauchen „Transitscheine“ und „Schiffspassagen“, um über den Atlantik zu kommen. Das filmische Setting der Geschichte ist jedoch gegenwärtig: Autos und gepanzerte Polizeieinheiten von 2017 bewegen sich durch die Straßen von Paris, hochmoderne Ozeankreuzer liegen vor dem Hafen von Marseille. Durch die Story führt ein sehr literarischer Off-Erzähler: Der Besitzer der Pizzeria „Mont Ventoux“, in der Georg in Marseille ersatzweise „wohnt“, berichtet in der dritten Person von dessen Erlebnissen.
Stärkster Satz
Den sagt Christian Petzold auf der Pressekonferenz über die Besetzung der Hauptrolle: „Ich hatte beim Schreiben des Drehbuchs noch keine Schauspieler im Sinn und habe die Rolle des Georg in meinem Kopf einfach mit Jean-Paul Belmondo aus „Außer Atem“ besetzt.“
Good Job!
Petzold gelingt es traumwandlerisch, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart die Waage zu halten. Das liegt unter anderem daran, dass die Schauplätze und Requisiten zwar aktuell sind, aber nur solche Dinge auftauchen, die es auch damals schon gab. Züge, Schiffe und Autos gibt es, Handys und Computer hingegen nicht. Trotzdem ergeben sich aufgrund der Szenerie einer Hafenstadt am Mittelmeer ständig Bezüge zu heutigen Fluchtkonstellationen, doch sobald diese Bedeutungsebene zu überwiegen droht, schlägt das Pendel zielsicher wieder um.
Wermutstropfen
Ein Schwachpunkt des Films, wohl auch schon des Romans, ist leider die Protagonistin Marie, gespielt von Paula Beer. Sie tritt ab der Hälfte der Handlung auf und erscheint Georg wie ein Gespenst an allen Orten, an denen sich Flüchtende aufhalten. Verzweifelt sucht sie ihren Mann, von dessen Selbstmord sie noch nichts weiß. Das bleibt ihr wesentliches Merkmal. Und weil sie anmutig und verführerisch ist, wollen alle Männer des Films sie retten. Das ist auch deshalb schade, weil komplexe Figuren immer eine Stärke in Petzolds Filmen waren.
Taschentuchmoment
Zum zweiten Mal besucht Georg den Jungen Driss, der gerade seinen Vater verloren hat. Doch Driss liegt krank im Bett, aus dem geplanten Fußballmatch wird nichts. Also repariert Georg das defekte Radio des Jungen, und als es wieder läuft, muss er innehalten. Die Melodie erinnert ihn an ein Schlaflied, das seine Mutter ihm einst vorgesungen hatte. Driss will es natürlich hören, aber ganz textsicher ist Georg nicht mehr: „Elefant, der läuft nach Haus, Vogel fliegt nach Haus, Kabeljau...“ Er muss sich erstmal sammeln. Wie Franz Rogowski das spielt, mit seiner nasalen Stimme, stets ein wenig brüchig wegen des Stotterns, aber mit dem perfekten Übergang von der Wehmut zum Triumph, wenn sich Georg an den Text erinnert und ankündigt: „Jetzt kommt der Kabeljau.“ Man versteht, warum so ziemlich alle wichtigen Leute im europäischen Film mit dem jungen Schauspieler plötzlich arbeiten wollen.
FYI
Das Lied, das Rogowski singt, ist von Hanns Dieter Hüsch, auch Blumfeld haben es gesungen auf dem Album Testament der Angst.
Ideal für...
… alle, die Geschichten auf der Leinwand lieben, wie sie auf diese Art nur das Kino erzählen kann. Mehr gibt’s wirklich nicht zu sagen.
„Transit“; Deutschland, Frankreich 2018, Buch und Regie: Christian Petzold, mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, 101 Minuten