Es sind inzwischen mehr als 100.000 Ungarn, die gegen Viktor Orbáns Politik auf die Straße gehen. Einige halten EU-Flaggen in der Hand und fordern Freiheit für die Bildung. Auslöser war ein Gesetz, das zur Schließung der von dem amerikanischen Milliardär George Soros gegründeten Central European University (CEU) in Budapest führen könnte. Soros ist ein scharfer Kritiker der ungarischen Regierung. Die Europäische Kommission hat am 26. April ein Verfahren gegen Ungarn eingeleitet, weil das Gesetz ihrer Meinung nach gegen europäische Rechte wie die Niederlassungsfreiheit und das Recht auf Bildung verstößt. Die Liste der Kritikpunkte an Viktor Orbáns Regierung ist aber viel länger: Ungarn hält seit Kurzem Flüchtlinge in sogenannten „Internierungslagern“ fest, benachteiligt NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten, und macht derzeit mit der Kampagne „Stoppt Brüssel“ Stimmung gegen die EU.

Vier Demonstranten haben uns erzählt, warum sie protestieren und was sie über die politische Situation in Ungarn denken.

„Hier entsteht eine neue Opposition“

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Janos mecs (Foto: Balint Hirling / n-ost)

János Mécs, 25, promoviert in Verfassungsrecht und ist Mitbegründer der jungen Oppositionsbewegung „Momentum“, die durch ihre erfolgreiche Kampagne gegen Olympia in Budapest bekannt geworden ist

(Foto: Balint Hirling / n-ost)

„Ich habe in letzter Zeit viel protestiert: gegen die politischen Angriffe auf NGOs, gegen das CEU-Gesetz und diese Woche gegen die Verstrickungen der ungarischen Regierung mit Russland. Und ich muss sagen: Ich bin ziemlich erleichtert. Etwas ist in Ungarn in Bewegung geraten. Die vergangenen Jahre war das Land wie im Schlaf. Jetzt wacht es auf. Die Demonstrationen sind getragen von einer Atmosphäre der Veränderung. Hier entsteht eine neue Opposition.

Dass die Regierung eine Universität attackiert, zeigt ein neues Level antidemokratischen Verhaltens. Es hat die Menschen sehr verärgert – und zwar über politische Lager hinweg. Mit dem Gesetz gegen die CEU wurde nicht nur der liberale, sondern auch der konservative Teil der Gesellschaft angegriffen. Das hat die intellektuelle Elite vereint. 

Es ist tatsächlich zum Großteil diese Elite, die im Fall der CEU auf die Straße geht. Aber ich sehe das Potenzial, dass der Protest auch andere Gesellschaftsschichten erreicht. Da kommt es auch auf das Thema an: Bei der von „Momentum“ organisierten Demonstration am Montag gegen Ungarns Verstrickungen mit Russland fühlten sich nicht nur Intellektuelle angesprochen. Jeder versteht aus der historischen Erfahrung heraus die Gefahr, die eine zu große Nähe zu Russland mit sich bringt. 

Es ist jetzt noch ein Jahr Zeit bis zu den Wahlen. Was wir brauchen, ist ein Sieg über die Fidesz-Regierung auf demokratischem Weg.“

„Eine starke EU ist Ungarns Zukunft“

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Katalin Lukacsi (Foto: Balint Hirling / n-ost)

Katalin Lukácsi, 29, Historikerin und Doktorandin an der Eötvös-Loránd-Universität, vor einigen Wochen ausgetreten aus der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP), die mit Orbáns Fidesz ein rechtes Parteienbündnis stellt

(Foto: Balint Hirling / n-ost)

„Sechs Jahre lang war ich Mitglied der KDNP. Ich habe das Holocaust-Erinnerungsjahr organisiert und mich mit jüdisch-christlicher Aussöhnung beschäftigt. Vor einigen Wochen habe ich die Partei verlassen, weil mir klar wurde, ich gehöre da nicht mehr hin.

Das deutete sich schon eine Weile an. Im vergangenen Sommer schockierte mich die Propaganda gegen Flüchtlinge und Papst Franziskus. Als die kritische Tageszeitung „Népszabadság“ ausgeschaltet wurde, wusste ich, dass meine Auffassung von Demokratie nicht mehr mit den Vorstellungen der KDNP einhergeht. Das Gesetz gegen die CEU war dann ein weiterer trauriger Punkt.

Ich muss mich nun meiner Verantwortung stellen, schließlich habe ich an diesem System mitgebaut. Ich will meine Bedenken nicht mehr verschweigen, deshalb protestiere ich. Ich habe Angst um Ungarn. Das Land hat eine schwere Zeit vor sich, im nächsten Jahr sind Wahlen. Wir Bürger sollten uns nicht in die Parteienkämpfe hineinziehen lassen – aber Desinteresse können wir uns auch nicht leisten. Nur wir können die Demokratie in unserem Land noch retten. Ich habe da Hoffnung.

Nach dem blutigen und tragischen 20. Jahrhundert ist die EU unsere große Chance auf ein friedliches Leben. Eine starke EU ist Ungarns Zukunft. Ich glaube auch, dass jüdisch-christliche Werte das Fundament unserer Gesellschaft sind – aber zu diesen Werten gehören weder Hass noch Fremdenfeindlichkeit und Angst.“

„Bislang habe ich nie demonstriert“

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Tibor Rácz (Foto: Balint Hirling / n-ost)

Der Journalist Tibor Rácz, 35, studiert an der von der Schließung bedrohten Central European University (CEU) in Budapest

(Foto: Balint Hirling / n-ost)

„Als wir Studenten Anfang April erfahren haben, dass die Regierung unserer Universität mit einem neuen Hochschulgesetz die Grundlage entziehen will, waren wir geschockt und nervös.

Seit vergangenem Sommer bereite ich mich an der CEU mit anderen Roma auf einen Master in Wirtschaftswissenschaften vor, das Programm soll im Herbst starten. Ob ich die vorgesehenen zwei Jahre in Budapest studieren kann, steht in den Sternen: Es kann sein, dass die CEU ihren Sitz nach Wien oder Prag verlegen muss, wenn sie wie geplant in Ungarn verboten wird.

Bislang habe ich nie demonstriert. Jetzt bin ich zum ersten Mal auf die Straße gegangen. Denn mit der geplanten Schließung der CEU setzt die Regierung von Viktor Orbán meine Zukunft und die meines Landes aufs Spiel. Ich habe bisher als Journalist gearbeitet und möchte mit Kollegen ein Netzwerk aufbauen, das die Korruption in Ungarn und unseren Nachbarländern aufdeckt. Dazu brauche ich das Wissen aus dem Studium.

Meine Kommilitonen und ich sind überzeugt, dass Orbán die Schließung der CEU durchzieht, auch gegen den Widerstand aus der EU. Im kommenden Jahr sind Wahlen in Ungarn, und unsere Regierung braucht Feindbilder, gegen die sie öffentlichkeitswirksam kämpfen kann: gegen Flüchtlinge, gegen die EU und die Institutionen, die der US-Milliardär und Orbán-Kritiker George Soros in Ungarn finanziert. Und das Flaggschiff dieser Institutionen ist die CEU.“

„In den meisten Medien wird über politische Alternativen überhaupt nicht mehr berichtet“

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Zoltán Fodróczi (Foto: Balint Hirling / n-ost)

Zoltán Fodróczi, 39, arbeitet als Datenanalyst

(Foto: Balint Hirling / n-ost)

„Die etablierten Parteien und die Politiker haben bei uns zu Recht den Ruf, sich persönlich zu bereichern, anstatt an das Gemeinwohl zu denken. Viele junge Ungarn wollen deshalb von politischem Engagement nichts wissen. Eine Alternative bietet die Spaß- und Protestbewegung „Zweischwänziger Hund“, der ich mich angeschlossen habe: Wir wollen das System mit Witz und Ironie bloßstellen und die Ungarn aus ihrer Apathie herausholen. 

Bei unserer Demonstration Ende April habe ich ein Plakat hochgehalten, auf dem ich die Mitglieder des russischen Geheimdienstes KGB und der Mafia in unserem Land begrüße. Denn während unser Regierungschef Viktor Orbán Flüchtlinge in Internierungslager sperrte, lockte er reiche Chinesen und Russen nach Ungarn, die sich hier für viel Geld einen lebenslangen Aufenthaltstitel kaufen konnten, der ihnen den Zugang zur EU erschloss.

Ich habe tatsächlich Angst, dass Ungarn zu einer Autokratie nach russischem Vorbild verkommt. Unsere Presse ist schon zu 95 Prozent in den Händen von regierungsnahen Eigentümern. In den meisten Medien wird über politische Alternativen überhaupt nicht mehr berichtet. Auf die Straße zu gehen ist der einzige Weg, Kritik zu äußern und Aufmerksamkeit zu bekommen.“

Titelbild: Attila Volgyi/Polaris/laif