Vier Studenten der Universität von North Carolina haben einen Nagellack entwickelt, der sich bei Kontakt mit einigen sogenannten „Vergewaltigungsdrogen“ wie GHB oder Xanax verfärben soll: Wer Sorge hat, dass jemand anderes eine betäubende Substanz ins eigene Getränk gekippt hat, soll das mit einem kurzen Eintauchen des Fingers überprüfen können: Wechselt der Nagellack die Farbe, trinkt man besser nicht mehr aus diesem Glas. Das soll vor allem Frauen mehr Sicherheit bieten.

Der Nagellack, der bereits seit 2014 angekündigt wird, soll (möglicherweise) 2017 auf den Markt kommen. Die Idee hat viel Aufmerksamkeit bekommen, wohl auch weil viele Frauen Sorgen haben, selbst einmal Opfer von K.-o.-Tropfen zu werden: Allein dieses auf Facebook geteilte Video wurde 17 Millionen Mal gestartet. Allerdings gibt es Zweifel, ob der Nagellack zuverlässig funktioniert und wie viele Betäubungsmittel er wirklich identifiziert, die im Glas landen könnten. Ebenfalls unklar ist, wie häufig K.-o.-Tropfen überhaupt bei Vergewaltigungen und anderen Übergriffen eine Rolle spielen: Die Studienlage ist dünn.

Immer wieder werden Tools wie dieser Nagellack oder auch Shorts mit 130 Dezibel lautem Alarm entwickelt, die versprechen, Frauen vor Übergriffen zu schützen – nicht nur vor jenen, bei denen K.-o.-Tropfen im Spiel sein könnten. Stiften solche Tools mehr Nutzen oder mehr Schaden?

CONTRA: Nicht nur nutzlos, sondern auch gefährlich

Der Anti-Vergewaltigungs-Nagellack fördert victim blaming und wird gegen die allermeisten Übergriffe nicht mal was ausrichten können, meint Luka Lara Charlotte Steffen

Eine Gruppe Studierender hat einen Nagellack entwickelt, der bei Kontakt mit Liquid Ecstasy die Farbe wechselt. Jetzt werden sie in einigen Medien als Superhelden im Kampf gegen sexualisierte Gewalt gefeiert.

Gut, stellen wir uns doch mal vor, ich möchte abends auf eine Party gehen. Damit ich vor potenziellen Angriffen geschützt bin, ziehe ich meine schwer ausziehbare Spezialunterhose an und trage den farbwechselnden Nagellack auf. Nach jedem unaufmerksamen Moment tauche ich den Finger in mein Getränk. In meiner Tasche befindet sich ein Pfefferspray und im besten Fall noch eine Trillerpfeife. An meinem Schlüssel baumelt ein Panikalarm, damit ich einen Angreifer mit 120 Dezibel davonjagen kann.

Warum nochmal soll ich dafür verantwortlich sein, kranke Weltbilder zu korrigieren?

Ich muss aufpassen. Es liegt in meiner Verantwortung. 24/7 wird es mir vor Augen gehalten, dass ich vorsichtig sein muss. Wenn ich es nicht bin, dann bin ich selbst schuld. Laut Produktbeschreibung sollen mich solche Anti-Rape-Tools „empowern“, mich also bestärken und selbstbestimmt handeln lassen. Doch zunächst einmal muss ich mir diese Selbstbestimmung kaufen. Die Produkte werden nicht frei an Universitäten oder Schulen verteilt, sondern müssen in der Regel im Internet bestellt werden. Schutz wird so zu einem käuflichen Versprechen und ist exklusiv, da sich gewiss nicht alle Menschen diese Produkte leisten können.

Gehen wir einen Schritt weiter: Es kommt zu einem Übergriff. Die Betroffene hatte keine Tools bei sich, keinen Nagellack aufgetragen. Trägt sie deswegen eine Mitschuld? Victim blaming, eine Täter-Opfer-Umkehr, passiert häufig in Fällen von sexualisierter Gewalt. Die Schuld wird den Betroffenen zugeschoben: Diese hätten den Übergriff durch gewisse Verhaltensweisen, aufreizende Kleidung oder exzessiven Alkoholkonsum selbst provoziert. Im Jahr 2016 ist es noch immer eine populäre Denkweise, das Nein einer Frau nicht als Nein zu werten, sondern als Aufforderung. Dabei steht seit diesem Herbst nicht nur moralisch fest, sondern auch im Sexualstrafrecht, dass das nicht okay ist.

Am Ende wird der Nagellack gegen Frauen verwendet werden...

Anti-Rape-Tools begünstigen das victim blaming, indem sie Frauen für ihre Sicherheit allein verantwortlich machen. Der Anti-Rape-Nagellack wird zum neuen „kurzen Rock“. Natürlich ist jeder Mensch in einem gewissen Maß für seine Unversehrtheit verantwortlich. Wer bei roter Ampel über die Straße geht, gefährdet sich selbst. Aber gefährde ich mich auch bewusst selbst, wenn ich ohne Pfefferspray aus dem Haus gehe? Hätte ich Maßnahmen ergreifen können, um einen Übergriff zu verhindern? Es ist schrecklich, sich diese Frage stellen zu müssen. Doch durch meine vermeintliche Eigenverantwortung in dieser Sache bleibt sie nicht aus.

Nein, ich bin nicht verantwortlich dafür, dass mir Menschen Drogen in meinen Drink mischen, mein fehlendes Einverständnis missachten, sexistische Witze über mich machen, mir auf der Straße hinterherbrüllen und mich begrapschen. Ich habe dieses Verhalten weder provoziert, noch hätte ich es verhindern können. Es liegt nicht in meiner Verantwortung, so ein krankes Weltbild zu korrigieren. Sexualisierte Gewalt ist die sichtbarste Folge der gesellschaftlich etablierten Objektifizierung von Frauen und einer ungleichen Rollenverteilung, die wir täglich reproduzieren.

...ohne Gewalt im Familien- und Bekanntenkreis bekämpft zu haben

Die Furcht vor dem Fremden, der einer Frau im Club heimlich Liquid Ecstasy ins Glas kippt, verschleiert außerdem die typischen Risiken, Opfer einer Vergewaltigung zu werden: 70 bis 80 Prozent der Täter stammen aus dem sozialen Nahbereich der Betroffenen. Laut einer im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) durchgeführten Repräsentativuntersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland passieren 69 Prozent der Fälle von sexueller Gewalt in der eigenen Wohnung. Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Sexualisierte Gewalt passiert mitten in unserer Gesellschaft, sie wird oft von Menschen ausgeübt, denen die Opfer vertrauen. Und wer vertraut, wird kaum den Nagellack-Check machen. 

Luka Lara Charlotte Steffen arbeitet als freie Journalistin und hat die Schnauze voll von Verhaltensregeln, die angeblich vor Übergriffen schützen sollen. Sie sehnt sich nach einem Tag, an dem sie und ihre Freundinnen mal ohne sexistische Kommentare durch die Stadt gehen können. In Ruhe.

PRO: Endlich ein Mittel, das mir Kontrolle zurückgibt

Das Problem der sexuellen Gewalt wird der Anti-Rape-Nagellack nicht lösen. Ein Stück Sicherheit kann er aber bieten, findet Theresa Breuer

Mädels, Hand hoch, wer es selbst erlebt, oder zumindest eine Freundin hat, der das passiert ist: diese Nacht, in der einem im Club plötzlich so schwindelig wurde und man unsicher war, ob es allein am Alkohol lag oder ob einem nicht doch etwas in den Drink geschüttet wurde. Wenn Frauen Glück haben, werden sie in solchen Situationen von Freunden nach Hause gebracht. Wenn ihnen niemand zu Hilfe kommt, sind sie dem, der ihnen die Droge verabreicht hat, wehrlos ausgeliefert. 

In jedem Fall ist es eine Frage, die einen noch Monate nach der besagten Nacht quälen kann. Denn nur wenige Frauen gehen nach solchen Situationen zur Polizei oder ins Krankenhaus. Und wenn, dann oft zu spät – K.-o.-Tropfen sind nur wenige Stunden in Blut und Urin nachweisbar.

Ein Beautyprodukt, das nebenbei vor Gewalt schützt? Gekauft!

Nun haben vier Studenten aus den USA einen Nagellack entwickelt – auf den Markt kommen soll er nächstes Jahr –, der K.-o.-Tropfen in Drinks erkennen soll. Einfach kurz den Finger in den Drink halten, schauen, ob sich die Farbe des Lacks verändert, und schon hat man Gewissheit. Eine super Idee, wie ich finde. Ich trage gerne Nagellack. Warum nicht das nächste Mal die Marke wählen, die einen vor sexualisierten Übergriffen schützen kann? 

Kritikerinnen machen sich Sorgen, der Nagellack könnte die Verantwortung im Falle einer Vergewaltigung der Frau zuschieben. So wie manche immer noch sagen: Hättest du dich nicht so freizügig angezogen, dann wäre dir das nicht passiert. Jetzt fürchten sie, dass auch noch ein „Hättest du den Nagellack getragen, dann hättest du gewusst, wie dir geschieht, bevor der Typ dich aus dem Club nach Hause geschleppt hat“ dazukommt.

Ich möchte so gut wie möglich auf Übergriffe vorbereitet sein...

Ich verstehe, dass Frauenrechtler auf dem Punkt beharren, eine Vergewaltigung sei niemals die Schuld des Opfers. Das sehe ich auch so. Aber ich halte das Argument, der Nagellack könne dem victim blaming dienen, für ziemlich weit hergeholt. Vielmehr ist es doch so, dass der Nagellack Frauen Schutz bieten kann. Und zu sagen, man dürfe sich nicht schützen, halte ich für falsch. 

Ein Beispiel: Neulich ist ein fremder Mann zu einer Freundin von mir in den Aufzug gestiegen. Als sich die Türen schlossen, begann er, sie zu begrapschen. Sie hat ihn angeschrien, er solle aufhören, und ist bei der nächsten Gelegenheit ausgestiegen. Jede Frau, der so etwas schon mal passiert ist, weiß, wie schrecklich sich das anfühlt. Auch bei meiner Freundin hielt der Schock ein paar Tage an. 

Die Frauen in meinem Freundeskreis waren sich schnell einig: Wir müssten mal wieder einen Selbstverteidigungskurs für Frauen organisieren. Außerdem tauschten sie sich darüber aus, wo es in der Gegend Pfefferspray zu kaufen gibt. Natürlich sagte niemand: Nee, lass das mal mit dem Selbstverteidigungskurs, in einer idealen Welt solltest du dich nicht verteidigen müssen. 

...was aber nicht heißt, dass sich die Gesellschaft auf Nagellack, Pfefferspray und Co. ausruhen soll

Gegner des Nagellacks sagen, dass man Vergewaltigung nicht nur im Einzelfall vermeiden, sondern als gesellschaftliches Phänomen bekämpfe müsse. Klar. Nichts ersetzt Aufklärungskampagnen an Schulen und Universitäten. Nichts ersetzt Eltern, die ihre Söhne zu respektvollen Männern erziehen, die wissen, wie wichtig weibliches Einverständnis ist. 

Aber wir leben nun mal nicht in einer perfekten Welt. Es wird immer Männer geben, die aus welchen Gründen auch immer, Sex mit Frauen ohne deren Einverständnis haben wollen. Sollen wir Frauen uns deshalb nicht zur Wehr setzen dürfen mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen? Der Nagellack ist kein Wundermittel, das Frauen vor blöder Anmache, Grapscherei oder Vergewaltigung schützt. Aber er kann Frauen ein Stück Sicherheit geben. Und damit gibt er ihnen auch ein Stück Macht zurück. 

Theresa Breuer lebt in Beirut und schreibt als freie Autorin öfter über den Nahen Osten als über Nagellack. Aber wo wir schon beim Thema sind, würde sie an dieser Stelle gerne eine Bitte an die Produzenten richten: Ob diese vielleicht den Date-Rape-Nagellack in Chanels Farbe „Rouge noir“ herstellen könnten?

Illustration: Renke Brandt