Es gibt viele Vorurteile gegen Kinder und Jugendliche, die im Heim oder wie ich bei Pflegefamilien aufgewachsen sind. Vor allem Jungen werden gerne in die kriminelle Ecke geschoben, nach dem Motto: Die sind im Heim, weil sie andere verprügelt haben oder drogenabhängig sind. Das ist oft falsch, es ist ja nicht der Fehler der Kinder, wenn sie falsch oder gar nicht erzogen worden sind und sich die Eltern überhaupt nicht kümmern.

Selbst Lehrer denken so. In der Schule wurde ich manchmal von ihnen komisch angesprochen, weil ich in einer Pflegefamilie lebe und nicht in einer "normalen" Familie.

Einmal hat mich doch tatsächlich ein Lehrer auf dem Gang in einer kleinen Pause inmitten von Schülerhorden gefragt: "Ich habe gehört, dass du in einer Pflegefamilie wohnst. Warum das denn?" Ich habe knapp geantwortet, "das ist eben so", und habe ihn stehen lassen. Soll ich etwa zwischen Mathe und Chemie mal kurz erzählen, dass mein Papa Alkoholiker und meine Mama schon immer labil war und nach der Scheidung komplett den Boden unter den Füßen verloren hat und ganz abgestürzt ist?

Nächtelang allein

Mama war – mit Kinderaugen gesehen – eine gute Mutter. Sie ist mit mir oft zum Schwimmen gegangen, wir haben tolle Ausflüge gemacht, sie war nie streng oder hat geschimpft.

All die anderen Dinge, worauf Eltern ansonsten riesigen Wert legen, zählten bei uns nicht. Ich war nächtelang alleine, musste keine Hausaufgaben machen, es gab keine regelmäßigen Mahlzeiten, der Kühlschrank war auch immer leer. Der Außenwelt, meinen Lehrern oder Nachbarn ist die mangelnde Präsenz meiner Mutter natürlich aufgefallen. So ist dann bald eine Familienhelferin vom Jugendamt zu uns gekommen, die sich einmal in der Woche gekümmert hat. Trotzdem hat sich im Wesentlichen nicht viel geändert.

Einmal hat meine Mutter große Angst bekommen, mich an das Jugendamt zu verlieren, da war ich in der dritten Klasse. An diesem Tag fand bei uns in der Schule die Fahrradprüfung mit großem Praxistest und feierlicher Übergabe des "Fahrradführerscheins" statt. Meine Mitschüler und ich haben tagelang geübt und waren voller Vorfreude. Während die anderen auf dem Pausenhof klingelnd ihre Runden drehten und vorführten, wie man richtig Armzeichen gibt, lag ich im Kofferraum unter vielen Decken begraben. Ich wurde heimlich in die Schweiz zu einer Bekannten meiner Mutter, die ich noch nie gesehen habe, gebracht, damit mich das Jugendamt nicht abholen kann. Es kam aber nicht. Erst später.

Sofortige "Inobhutnahme"

Es kam, als meine Mutter zum fünften Mal einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Dabei ging es ihr nicht um das Sterben an sich, sondern um Aufmerksamkeit. Das Ganze war wohl ein Hilfeschrei. Sie hat immer vorab den Rettungsdienst informiert, erst dann schnitt sie sich die Pulsadern auf.

Ich wurde von einem netten Polizisten geweckt, während unten Chaos herrschte. Meine blutende Mutter, Rettungsdienst, Polizei und Jugendamt. Sie beschlossen eine sofortige "Inobhutnahme", ab sofort war das Jugendamt für mich zuständig, nicht mehr meine Mutter. Nur ein paar Kilometer von meinem damaligen Wohnort liegt eine große Jugendhilfeeinrichtung, wo auch mein älterer Bruder seit einiger Zeit betreut wurde. Da wurde ich also mitten in der Nacht hingebracht.

Die nächsten Wochen waren wunderschön. Ich konnte dank einer Ausnahmeregelung bei meinem Bruder auf der Wohngruppe leben. Ich war für die ganzen sechzehnjährigen Jungen die kleine Schwester. Alle hatten, weil sie wohl ein ähnliches Schicksal hinter sich hatten, Mitleid mit mir. Immer hat jemand mit mir Uno oder Verstecken gespielt. Sie haben den ganzen Tag Blödsinn mit mir gemacht und mich mit Süßigkeiten vollgestopft – nur um mich von meiner Mama abzulenken. Die erste Zeit habe ich sie noch gar nicht vermisst, sie war ja im Krankenhaus. Als dann klar wurde, dass ich auch nach ihrer Entlassung nicht bei ihr leben kann, kam die Trauer auf einen Schlag. Alice Wagner*, eine junge, coole Erzieherin aus der Einrichtung, spielte schon länger mit dem Gedanken, ein Pflegekind aufzunehmen. Sie hatte schon ein verpflichtendes Seminar besucht und bot sich mit ihrem Mann als vorübergehende Pflegeeltern an.

Das gelbe Handy

Aus "vorübergehend" wurden dreizehn Jahre. In meinem Kopf sind die ganzen Erlebnisse, alles, was sich in dieser Zeit abgespielt hat, wie ein Knäuel von Erinnerungen. Es sind so viele Fetzen in meinem Kopf, die ich nicht wohlgeordnet erzählen kann. Zuerst war die Unterkunft bei Wagners nur eine Notlösung. Meine Mutter wollte mich zurück. Sie hat mir ein gelbes Handy geschenkt, damit wir immer in Kontakt bleiben können. Ich wollte keinen Anruf von ihr verpassen und habe mein Handy nie aus der Hand gelegt. Alice hat mich zum Duschen geschickt. Aber ich konnte ja nicht – in dieser Zeit hätte ja Mama anrufen können. Diese "Duschverweigerung" hat über Wochen angehalten, so groß war die Sehnsucht nach meiner Mutter.

Sie hatte viele Chancen, mich zurückzubekommen. Zuerst konnte ich sie jedes zweite Wochenende besuchen, aber selbst diese kurze Zeit verlief nie beständig. Einmal wollte sie gegen einen Baum fahren und sich umbringen, einmal hat mich ihr neuer Lebensgefährte in eine kleine Abstellkammer gesperrt. Wie lang, ob ein paar Stunden, eine Nacht oder das ganze Wochenende, weiß ich nicht mehr.

Irgendwann war allen Beteiligten klar, dass es eine klare Regelung geben muss. Ob ich nun endgültig bei den Wagners leben soll oder ob es eine Rückführung in die eigene Familie [das bed.: Kind und Eltern werden mit Hilfe von Fachleuten wieder langsam an ein gemeinsames Leben herangeführt] geben soll. Mit ihrem zwielichtigen Freund wäre dies schon im Voraus zum Scheitern verurteilt gewesen. Deshalb stellten die zuständigen Fachleute vom Jugendamt und Gericht meine Mutter vor die Wahl – Freund oder Kind. Sie entschied sich für ihn, wissend, dass ich dann bei den Wagners bleiben werde.

Diese Entscheidung war dafür verantwortlich, dass ich mich innerlich von meiner Mutter lösen konnte. Kann man als Tochter seine Mutter noch innig lieben, wenn sich diese so offensichtlich gegen einen entscheidet?

Ordnung und Regeln

Von Freundinnen oder anderen mir Nahestehenden werde ich manchmal gefragt: "Wie ist das so, in einer Pflegefamilie aufzuwachsen?" Jetzt als Erwachsene kann ich sagen, es war das Beste, was mir passieren konnte. Bei den Wagners habe ich das erste Mal Regeln und Grenzen erfahren: pünktlich zum Essen kommen, früh schlafen gehen, auf andere Rücksicht nehmen, im Haushalt helfen zu müssen.

In der ersten Zeit habe ich Alice für ihre Konsequenz und auch Strenge irgendwie gehasst, zudem habe ich meine Mutter vermisst und Alice unbewusst wohl dafür verantwortlich gemacht, nicht bei ihr sein zu können. Das hat sich aber bald geändert. Ich habe gespürt, wie beruhigend es ist jemanden zu haben, der immer für einen da ist. Der sich für mich und mein Weiterkommen einsetzt, dem ich nicht egal bin. Ich war keine Leuchte in der Schule und sollte eine Klasse wiederholen, Alice hat mir eine Nachhilfelehrerin besorgt, mich zu verschiedenen Therapeuten gefahren. Bald hat sich meine Einstellung zur Schule geändert. Ich kam von der Hauptschule auf die Realschule und habe jetzt bald mein Abitur in der Tasche.

Trotz allem haben wir nicht Friede-Freude-Eierkuchen-mäßig gelebt. Dreimal standen meine Koffer vor der Haustüre. Ich wollte nicht mehr, Alice wollte nicht mehr. Trotz aller Krisen und Kämpfe ging es immer irgendwie zusammen weiter. Die Pflegschaft hat unser beider Leben beeinflusst. Durch mich hat Alice ihre Berufung gefunden. Sie hat ihren Job als Erzieherin im Heim aufgegeben und lebt mit ihrem Mann, zwei eigenen Kindern und vier Pflegekindern zusammen.

*Alle Namen wurden geändert.

Natascha Mahle lebt als freie Journalistin in Biberach.