Thema – Integration

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Angst hat eine senfgelbe Farbe

Das eigene Zuhause soll ein Schutzraum sein. Für Hasibullah Ahemedzei ist es das Gegenteil

Asyl, Angst, Abschiebung, Afghanistan

Vor einem Jahr berichteten wir über Hasibullah Ahemedzei, der aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet ist. Damals versuchte er, aus Bad Gottleuba-Berggießhübel im Erzgebirge nach Leipzig ziehen zu dürfen. Doch wegen der Wohnsitzauflage war das unmöglich. Mittlerweile wurde ihm eine andere Wohnung zugeteilt: in Pirna. Wir wollten wissen, wie es ihm heute geht – und sind noch mal hingefahren. 

Manchmal betritt Ahemedzei die Zweizimmerwohnung in Pirna wochenlang nicht, übernachtet bei Freunden, wechselt den Ort. Er kommt nur, um seine Post zu lesen. Ein Mitbewohner hat sie ihm auch heute auf den Tisch in sein Zimmer gelegt. Ahemedzei hasst diese Briefe. Senfgelber Umschlag – das bedeutet Post vom Verwaltungsgericht. Mit jedem Brief steigt die Angst, das Land ein für allemal verlassen zu müssen. 

Schon vor den Ausgangsbeschränkungen hält es Hasibullah Ahemedzei in seiner Wohnung kaum aus. Es ist Anfang März. Er lebt hier mit zwei anderen Männern, die einen Asylantrag gestellt haben, und wirkt wie ein Fremdkörper in den eigenen vier Wänden. Die sind für ihn kein Schutzraum, sondern eher das Silbertablett, auf dem er den deutschen Behörden ausgeliefert ist – das befürchtet er zumindest.

Ahemedzeis Asylantrag wurde in allen Instanzen abgelehnt: Seit gut einem Jahr lebt er mit dem Status „geduldet“. Das heißt: Er muss Deutschland verlassen, aber seine Abschiebung ist „vorübergehend ausgesetzt“. Für wie lange? Das wusste er schon vor dem Virus nicht. Jetzt, während der Covid-19-Pandemie, finden keine Abschiebungen statt. Trotzdem hat er Angst, dass Beamte eines Nachts unangekündigt vor seiner Tür stehen und ihn in ein Flugzeug nach Afghanistan setzen könnten. 

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Asyl, Angst, Abschiebung, Afghanistan

Nicht nur die Sofas passen nicht zusammen: Ahemedzei wirkt in seiner Wohnung wie ein Fremdkörper

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Asyl, Angst, Abschiebung, Afghanistan

Mit zwei anderen Asylbewerbern wohnt er in einer WG in Pirna. Meist kommt er nur nach Hause, um die Post vom Verwaltungsgericht zu lesen

Dabei sah für ihn eigentlich alles gut aus. Vergangenen Mai konnte Ahemedzei endlich nach Pirna ziehen und den ihm verhassten Ort Bad Gottleuba-Berggießhübel im Erzgebirge, in dem er knapp zwei Jahre gewohnt hat, verlassen. Pirna bedeutet für ihn Freiheit. Nur knapp 20 Minuten braucht er von hier nach Dresden, wo er 2015 einen Entschluss gefasst hatte. An seinem ersten Tag in Dresden war er mit seinem Freund Naser durch die Fußgängerzone geschlendert, vorbei an Geschäften und Restaurants. „Was meinst du“, hatte er Naser gefragt, „schaffe ich es, irgendwann hier zu arbeiten?“ Naser hatte laut gelacht und gesagt: „Träum weiter.“ Aber Ahemedzei ist kein Träumer. Er ist ein Kämpfer.

Fünf Jahre später arbeitet er bei Vinod Kumar, einem hageren indischstämmigen Mann, der hübsche Kleider und Schuhe für jeden Anlass verkauft. „Der Chef“, wie Ahemedzei ihn nennt, ist zufrieden mit ihm: Er strengt sich an, kommt mit den deutschen Kleidergrößen gut klar, dekoriert Schaufenster und berät die Kundschaft. In Afghanistan besaß Ahemedzei einen eigenen Laden: 24 Quadratmeter in Kabuls modernstem Einkaufszentrum, dem Kabul City Center, mit explosionssicheren Scheiben und Metalldetektoren an jedem Eingang. Die Taliban drohten mehrmals mit Anschlägen auf die Mall. 600 Dollar Miete habe er jeden Monat gezahlt, erzählt Ahemedzei. In den Wirren des Krieges begann er für ein US-amerikanisches Unternehmen zu übersetzen. Für die Taliban wurde er damit zum Ungläubigen und musste fliehen.

Asyl, Angst, Abschiebung, Afghanistan

„Der Chef“ versteht nicht, warum Ahemedzei abgeschoben werden soll. Manchmal sitzen sie nach der Arbeit noch zusammen in Vinod Kumars Wohnung

Jetzt, in seinem kahlen Zimmer in Pirna, dröhnen Kindercartoons aus dem Fernseher im Nachbarzimmer. Ahemedzei zeigt stolz eine kleine rote Box auf dem Nachttisch, darin: ein Brieföffner, den chinesische Kundinnen ihm schenkten. Er lässt sich aufs Bett fallen, öffnet den senfgelben Umschlag und fummelt den Brief heraus. Dann erhebt er sich, atmet schwer ein und aus und steckt den Brief wortlos zurück in den Umschlag. Nur eine seiner alten Klagen gegen die Wohnsitzauflage im Erzgebirge. Mittlerweile ist die irrelevant, er hat andere Probleme.

„Wenn du in Afghanistan Probleme mit den Taliban hast, dann hast du die nicht nur in Kabul“

„Ich habe immer Angst vor der Abschiebung“, sagt Ahemedzei. Er könne in Afghanistan zum Beispiel in Herat leben, begründeten die deutschen Behörden die Ablehnung seines Asylantrags. Die Provinz im Westen des Landes galt lange als relativ sicher. Doch seit 2017 kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban, gibt die Schweizer Flüchtlingshilfe an. Ahemedzei schüttelt verständnislos den Kopf: „Wenn du in Afghanistan Probleme mit den Taliban hast, dann hast du die nicht nur in Kabul, sondern im ganzen Land. Sie sind überall. Das ist eine riesige Organisation.“

Der deutsche Staat hat bis vor kurzem immer mehr Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Wurden 2016 noch 34 Abschiebungen vollzogen, waren es 2019 bereits 361, wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage angibt. Eine umstrittene Praxis: Während manche Parteien dies als konsequente Antwort auf negativ beschiedene Asylverfahren betrachten, kritisieren beispielsweise Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen diese Entscheidung. Eine Studie zeigt, dass 90 Prozent der befragten abgeschobenen Afghanen in ihrer Heimat Opfer von Gewalt wurden. Viele fliehen daraufhin erneut. Das Auswärtige Amt warnt ebenfalls vor Reisen nach Afghanistan: Auch als „vergleichsweise sicher“ geltende Regionen könnten schnell zum Kampfgebiet werden.

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Unfreiwilliges Couchsurfing: Aus Angst vor der Abschiebung übernachtet er oft bei Freunden in Dresden und Pirna. Die Zahl der abgeschobenen Afghanen ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen

Ahemedzei loggt sich nur noch selten bei Facebook oder Instagram ein. Er will nicht von Freunden mitbekommen, was in Afghanistan passiert: dass am 6. März ein Attentäter mindestens 32 Menschen in Kabul tötet, dass am 20. März bei einem Angriff 24 Sicherheitskräfte sterben oder dass am 25. März ein Angreifer in einem Sikh-Tempel mindestens 150 Gläubige in seine Gewalt nimmt, von denen 25 sterben. Die Nachrichten schafften es aber sogar in deutsche Medien. Und so nun doch auch zu Ahmedzei. Wenn er daran denkt, beginnen seine Schläfen zu pochen. Er packt seinen Rucksack und verlässt die Wohnung. Für diese Nacht braucht er noch einen Schlafplatz. In Dresden und Pirna hat er viele Freunde, die ihm immer wieder Unterschlupf gewähren.

Wenige Wochen später werden in Sachsen wegen des Coronavirus strenge Ausgangsbeschränkungen beschlossen. Auch Ahemedzeis Chef muss sein Geschäft schließen, Arbeit fällt als Ablenkungsmöglichkeit also flach. Schlimmer noch: Ahemedzei muss jetzt eigentlich zu Hause bleiben. Die Angst aber treibt ihn aus Pirna weg, er zieht vorübergehend zu seiner Schwester nach Leipzig. In Pirna, das erzählt ihm ein Freund, ist in der Zwischenzeit wieder ein Umschlag angekommen, ein senfgelber. Seit anderthalb Wochen liegt er neben der roten Box auf dem kleinen Tisch, ungeöffnet.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.