Thema – Generationen

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Ein Stück von mir

Das Haus meiner Eltern war ein Zuhause, das ich jedem wünsche. Warum ich es trotzdem nicht haben möchte

Illustration: Frank Höhne

Ich habe die Nase von Mama und Papas Allergien. Das schlechte Gewissen habe ich von beiden. Denn irgendwann kann ich auch ihr Haus haben, ohne je etwas dafür getan zu haben. Ich habe dieses Haus, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht verdient. Erben ist keine Leistung, von leistungsfähigen Eltern abzustammen schon gar nicht.

Wenig wird Deutschland in den kommenden Jahren so verändern wie die Milliarden, die die Generation meiner Eltern vererbt. Die Deutschen vermachen, unbeeindruckt von Kriegen, Währungsreformen und Inflationen, jedes Jahr mehr. Da ist natürlich viel Krempel dabei, Minibuchsammlungen und Fotoalben, Pelzmützen und Kristallgläser. Aber eben auch Firmen, Sparbücher und Festgeldkonten und – vor allem, mit etwa der Hälfte des Erbschaftsvolumens – Häuser und Grundstücke. Wie viel genau vererbt wird, kann niemand sagen. Knapp 400 Milliarden Euro jährlich, schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Das wären elf Prozent der deutschen Jahreswirtschaftsleistung. Zu diesem Erbvolumen bringt es kaum ein anderes Land.

Erben ist mehr als ein finanzielles Privileg

Ich, ein 1990 geborener Alleinerbe, bin Bote dieser „Erbengesellschaft“. In der vielfach nicht mehr Selbstverdientes darüber entscheidet, wie man lebt, sondern das Vermögen, das einem hinterlassen wird. Ein großer Teil dieser Gesellschaft wird, ob mit Abschlüssen dekoriert oder vor Ehrgeiz strampelnd, kaum je erreichen können, wofür andere nur ein Papier beim Notar unterschreiben müssen. Das Geld der Alten entscheidet über das finanzielle Glück und Unglück der Jungen. Ganz so, als steuerten wir nicht durch das 21., sondern zurück ins 19.Jahrhundert.

Die Deutschen revoltieren recht leise gegen diese Unwucht. Das liegt vermutlich daran, dass die Verständigung über den Nachlass Tabus mitbringt: Wer über Erbe spricht, kann Geld und Tod nicht auslassen. Und weil wenig so intim ist wie der Kontoauszug und das Sterben, schweigen viele lieber ganz.

Ich finde das falsch. Mein Fall, die weiß getünchten 105 Quadratmeter mit einem kleinen Erker und Terrasse, eingeklemmt zwischen zwei Eichen in einem Berliner Vorort, ist ein gutes Beispiel dafür, dass Erbe nur am Rande mit Tod und Geld zu tun hat. Klar: Zu erben, also finanziell von der Lebensleistung der Eltern zu profitieren, ist ein Privileg. Daneben geht es aber vor allem um Ideelles: Erbe ist konservierte Zeit, Ding gewordene Erinnerung.

Stehe ich vor unserem Haus, sehe ich wie in einer Art Doppelbelichtung meinen Opa, der, fast 70-jährig, im Unterhemd über den Dachstuhl klettert. Mama, wie sie Schnee schiebt im Wohnzimmer, das noch keine Decke hat. Und da hinten glimmt der rote Schädel meines Papas, der unter Ausstoß fantasievoller Flüche das Gelände zu einer Landschaft aus Steinterrassen zähmt, vielleicht in der Hoffnung, dass unser Vorort dann ein bisschen so aussieht wie Katalonien.

„Während ,Ich erbe’ fürstlich und nach wenig Sorgen klingt, habe ich diese Haus all die Jahre vor allem als Last erlebt“

Wo wir schon bei Erinnerungen sind: Auch das zweite vermeintliche Tabuthema beim Erben, der Tod der Vererbenden, muss im Grunde keines sein. Dieser Text ist ja auch kein Nachruf, er zeigt meine Eltern nicht als vergangene Wesen, die ihrem Vermächtnis gütig hinterherlächeln. Er entsteht – ganz im Gegenteil – durch einen Neubeginn: Meine Eltern wollen mit Freunden eine Wohngemeinschaft beziehen, in der sie eines Tages bequemer altern können als in einem Haus voller Treppen. Und seit die beiden so klarsehen, höre ich eine Stimme. Sie spricht im Konjunktiv. Ich müsste vielleicht, sollte mal. Und hätte doch schon längst das Gespräch suchen müssen. Mit den WG-Plänen meiner Eltern wird es für mich ernst: Will ich überhaupt in unserem Haus wohnen?

Während „Ich erbe“ fürstlich klingt, nach unbegrenztem Geld und begrenzten Sorgen, habe ich das Haus all die Jahre vor allem als Last erlebt. Was meine Eltern in ihren Vollzeitjobs und Überstunden verdienen, geht noch heute direkt ins Haus oder an die Bank. Meine Schulfreunde verbrachten die Ferien im Robinson-Club oder in den USA, ich verreiste mit meinen Großeltern. Eine Fernreise haben meine Eltern mit mir gewagt. Das Hotel an der türkischen Küste sah im Reisekatalog ganz nett aus, war aber noch im Rohbau. Über das Frühstücksbüfett liefen Straßenkatzen, wir reisten früher ab. Allzu lang wollten wir unser Haus ohnehin nicht allein lassen. Sie seien nicht so die Fernwehtypen, sagt Mama immer.

Meine Eltern genießen es, in diesem Haus zu leben, unter einem Dach, das keine anderen Bewohner kennt, auf der Terrasse, deren Sonnenstühle niemand reserviert. Ob sie heute noch mal eines bauen würden, bezweifeln aber beide.

Sind wir eine Generation, der Besitz egal ist?

Ich habe als Kind kaum etwas vermisst. Erst später fiel mir auf, wie unfrei ich dieses Leben finde. Ich bin nach Berlin gezogen, wie so viele andere. Und kann heute, in dem Alter, in dem meine Eltern sich damals für das Haus entschieden, sagen, dass ich nicht zurückkomme. Je jünger man ist, desto unwichtiger erscheint einem materieller Besitz. Das legen zumindest Studien nahe. Die Vermächtnisstudie von „Zeit“, infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung nennt uns eine „postmaterialistische“ Generation. Obwohl es letztlich teurer, ungesünder und auch irgendwie widernatürlich ist, lebe ich tatsächlich lieber auf wenigen Mietquadratmetern in der Großstadt. Wenn der Wasserhahn tropft, rufe ich meine Vermieterin an. Mir fehlen die Geduld und das Geschick, die mein Papa als gelernter Maschinenschlosser mitbringt. In meiner Familie sorgt das zuweilen für Heiterkeit („Zwei linke Hände und nur Daumen dran“), mich als Hausbesitzer würde es irgendwann vermutlich aufreiben, auch finanziell.

Wirtschaftlich spricht sowieso einiges gegen mich als Eigentümer: Wer einen Kredit abzahlt oder Rücklagen bilden muss, verzichtet im Zweifel lieber einmal öfter auf Restaurants oder Kurzurlaube. Die Verantwortung, die Besitz mit sich bringt, haben meine Eltern immer betont. Das Problem: Ich verdiene weniger und weniger konstant als sie, gebe aber ganz gern Geld aus und kann die Gedanken an die finanzielle Absicherung mühelos verdrängen. Bei Riester und Rürup denke ich an Talkshowgäste, nicht an Altersvorsorge. „Besitz“ kommt von „sitzen“, sagt man. Für mich ist das nichts.

Trotzdem kommt mir der Gedanke, zurückzuziehen, manchmal heldenhaft vor, wie ein stiller Akt der Selbstaufopferung: da zu bleiben, wo man herkommt, zu tun, was immer getan wurde, damit alles weitergehen kann, das Haus, der Garten, die Terrasse, das Leben. Wie sagt man seinen Eltern, dass man diesen Akt nicht aufführen möchte? Und damit womöglich auch ihr Leben irgendwann in Kisten packt? Ein Riesendilemma, dachte ich.

Meine Eltern sehen das anders. Wer das Haus nach ihnen bewohnt, habe nie eine Rolle gespielt, sagt Papa. „An diesem Haus hängen Verpflichtungen“, sagt Mama, „aber nicht für dich.“ Ich muss lächeln. Sie geben alles und gehen dann einfach unbeeindruckt weiter. Egal wie ich mich entscheide: Meine Eltern hinterlassen kein Haus oder Geld, sondern viel mehr: ihre Idee von Hingabe.

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.