„Wehre dich und laufe nie alleine herum. Hab immer Freund/Freundin bei dir (egal, wenn du nur zur Toilette möchtest)“. So antwortete eine Schülerin oder ein Schüler im Rahmen der Studie „Speak!“ auf die Frage: „Welchen Rat würdest du einer Person geben, die auch so etwas wie du erlebt hat?“ Mit „so etwas wie du“ sind Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemeint. Die Studie zeigt: Erschreckend viele junge Menschen haben welche gemacht. 

Knapp die Hälfte der Befragten berichtete über Erfahrungen mit verbaler sexualisierter Gewalt

2.719 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 und 10 an allgemeinbildenden Schulen ließ das hessische Kultusministerium im Rahmen der Studie „Speak!“ 2016 befragen. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse im Juni dieses Jahres. Knapp die Hälfte der Befragten – die meisten zwischen 14 und 16 Jahre alt – berichtete über Erfahrungen mit verbaler sexualisierter Gewalt, etwa mit Gerüchten, unerwünschten Kommentaren sexuellen Inhalts, oder über anzügliche Anmache im Netz. 

Knapp ein Viertel wurde schon einmal gegen den eigenen Willen und mit sexueller Absicht berührt. Vor allem Mädchen sind der Studie zufolge betroffen: 30 Prozent gaben an, beispielsweise an Po oder Brust angefasst worden zu sein. Drei Prozent der Mädchen sagten, dass sie mindestens einmal zum Geschlechtsverkehr gedrängt oder gezwungen wurden. Bei elf Prozent der Mädchen wurde das versucht. 


 

30 Prozent der Mädchen gaben an, an Po oder Brust angefasst worden zu sein

Sabine Maschke, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Marburg, hat die Studie zusammen mit Kollegen erstellt. Sie sagt: Jene, die junge Mädchen belästigen, seien zum großen Teil selbst noch Jugendliche – „in etwa Gleichaltrige“. Wie kann das sein?

 

„Vor allem die Ergebnisse, was Kommentare und Anmache angeht, halte ich für sehr realistisch“, sagt Franziska Hafner. Sie ist 16 Jahre alt und besucht das Oskar-von-Miller-Gymnasium in München. Zusammen mit Fennet Habte, 17 Jahre alt und Schülerin am Münchner Dante-Gymnasium, engagiert sie sich bei der Stadt-Schüler*innenvertretung der Stadt München. In deren Räumlichkeiten haben sich die beiden verabredet, es gibt Nudeln mit Pesto und viel zu tun: Eine Konferenz steht vor der Tür und will noch organisiert werden. 

Die Schule ist der Risiko-Ort Nummer eins für nichtkörperliche sexualisierte Gewalt

Franziska und Fennet sprechen aus Erfahrung. Auf Partys, auf dem Oktoberfest und auch auf der Straße wurden sie schon mit Anmache, Pfiffen und Kommentaren von Gleichaltrigen belästigt. Woher kommt das? Eine niedrigere Hemmschwelle, „wenn man sich kennt“, vermutet Franziska. Und allgemein der „ganz normale soziale Druck in der Pubertät“. Fennet ergänzt: Mit dem Älterwerden steigen die Erwartungen, alle Erfahrungen mitzunehmen, die man in dem Alter glaubt, machen zu müssen: „Sechzehn ist die magische Zahl! Wenn du sechzehn bist, dann musst du liefern. Also handeln.“ Mit Handeln meint Fennet: einen Partner haben und sexuell aktiv werden. In den ganzen Filmen liefe das schließlich so. Nur: Im echten Leben ist es eben oft komplizierter. Wenn die eigene, vielleicht gerade unglücklich verliebte, pubertierende Existenz nicht mit den auf Instagram abgefeierten Drehbüchern für die sexuelle Selbstfindung übereinstimmt, dann entsteht ein Phänomen, das Pädagogen peer pressure nennen: Gruppenzwang. Und der ist fies. Im schlimmsten Fall kann Gruppenzwang dazu beitragen, dass Menschen Grenzen überschreiten. Junge Menschen, die gerade mittendrin stecken in der Suche nach der eigenen sexuellen Identität und dabei auch noch mit verschiedensten Rollenbildern jonglieren, sind dafür quasi prädestiniert. Allerdings ist das nur ein Faktor von vielen, die zusammen dazu führen, dass viele Menschen sexuelle Übergriffe – ob verbale oder körperliche – von Gleichaltrigen erfahren.

Post-it mit dem Wort Homo

Post-its sind ganz schön Neunziger. Heute werden Beleidigungen in WhatsApp-Gruppen verewigt – weniger plakativ, aber mit größerer Reichweite

 

 „Wenn du als Schlampe, Fotze und Hure beschimpft wirst, geh – wenn es in der Schule ist – erst zu deinen Freunden, dann zum Lehrer, danach zu den Eltern. Wenn es sein muss, auch zum Rektor/zur Rektorin. Hilft nicht immer: Es gibt Lehrer, denen es egal ist“ – das ist ein Rat, den eine im Rahmen der Studie befragte Schülerin gab. Laut „Speak!“ ist die Schule der Risiko-Ort Nummer eins für nichtkörperliche sexualisierte Gewalt. 

20 Prozent gaben an, Folgen von nichtkörperlicher sexualisierter Gewalt zu spüren

„Dass das ein Problem ist, ist mir bewusst“, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. Vor allem in den sozialen Medien fallen ihm „viele Beispiele für solche Angriffe“ ein. Und erst kürzlich hätten sich wieder Eltern über die Ausdrücke beschwert, die durch die WhatsApp-Gruppe einer seiner Klassen geistern: „Homo“ zum Beispiel. „Da geht’s rau zu“, sagt Meidinger.

Als Rektor an einem Gymnasium im bayerischen Deggendorf fragt er sich in solchen Situationen aber auch: Ab wann wird die Schwelle zur sexualisierten Gewalt eigentlich überschritten? Schließlich gelte die Political Correctness der Erwachsenenwelt nicht zwangsläufig auch unter Jugendlichen. Und während manche Schülerinnen und Schüler es einfach wegstecken oder sogar belustigend finden, am Pausenhof „Bitch“ genannt zu werden, bleiben anderen diese Beschimpfungen tief im Gedächtnis haften. 

Die bloße Tatsache, dass derbe Sprache für viele Schülerinnen und Schüler offenbar zum Alltag gehört, heißt im Umkehrschluss nicht, dass die Opfer diese Situation auch als normal empfinden: „Es bedeutet noch lange nicht, dass sie auch für diejenigen okay ist, die dann zum Beispiel auf die Rolle der ‚Bitch‘ oder der ‚Schwuchtel‘ in der Klasse festgelegt werden“, sagt Sabine Maschke von der Universität Marburg. Bei der Studie gaben 20 Prozent der Befragten an, Folgen von nichtkörperlicher sexualisierter Gewalt zu spüren: Misstrauen, Scham oder Angst. Fast die Hälfte von ihnen litt drei Monate oder länger darunter. Beratungslehrer können in solchen Fällen Hilfe leisten, viele von ihnen sind inzwischen sensibilisiert und im Umgang mit Mobbing geschult. Aber ob das auch für oft sehr schwierige Fälle von sexualisierter Gewalt zutrifft? Zumindest in Deggendorf werde man das in der nächsten pädagogischen Konferenz besprechen, verspricht Heinz-Peter Meidinger. 

Pornos zum Vorbild nehmen? Schlechte Idee

Die Macher*innen der Studie haben mit den Schülerinnen und Schülern auch über Pornografie-Konsum gesprochen – ein weiterer Mosaikstein auf der Suche nach den Ursachen für die Ergebnisse. Bei sexualisierter Gewalt geht es laut Sabine Maschke immer auch um Stereotype und unseren Blick auf den eigenen Körper. Da habe sich viel verändert. 

Fast die Hälfte litt drei Monate oder länger unter Misstrauen, Scham oder Angst 

„Das hat unter anderem mit den Verhaltensdrehbüchern für Sexualität zu tun, die in Pornos vorgelebt werden“, sagt Maschke. Die kulturpessimistische Keule will sie bei der Interpretation der Studienergebnisse zwar nicht auspacken – dass die häufige Darstellung von Gewalt in Pornos etwas mit der Sexualität von jungen Menschen macht, hält sie aber für sicher. „Darüber muss offen geredet werden“, fordert sie. 

 

Fennet und Franziska rollen mit den Augen, wenn jemand ihre Altersgruppe als „Generation Porno“ bezeichnet. „Klischee pur“, sagen sie. Sie halten sich nicht für abgestumpft, sondern für offen und diskutierfreudig. Sie erzählen davon, dass sie sich über die Arbeitsbedingungen in der Pornobranche Gedanken machen und dass sie einschreiten, wenn mal wieder einer „Sei keine Pussy!“ ruft. Und dass viele in letzter Zeit sensibler geworden sind, zum Beispiel was homophobe Kommentare angeht. „Allein wenn einer sagt: ‚Das ist aber ein schwuler Schal!‘, dann gibt das ’ne Diskussion“, sagt Franziska. 

Besser: Aufklärungsunterricht fordern, gern mit Unterrichtenden von außerhalb

Was sich die beiden wünschen, ist ein besserer Aufklärungsunterricht – gerade auch für die, die möglicherweise etwas weniger reflektiert mit dem Thema Sexualität umgehen. „Nicht so hölzern“ sollten diese Kurse sein, stattdessen mit Workshop-Charakter und Unterrichtenden von außerhalb. Mit dem Biolehrer über sexuelle Wünsche, Neigungen oder Pornos zu diskutieren, so die beiden, würde nämlich eher weniger entspannt ablaufen.

Fotos: Jan Q. Maschinski