„Psst! Leise!“ Eleftheria Vamvoukou bückt sich und tritt durch einen gemauerten Eingang in einen fensterlosen, weiß getünchten Raum, gerade groß genug für ein zwei mal drei Meter großes Steinbecken. Durch kleine Schlitze in der Dachkuppel fällt Licht und bildet tanzende Sonnenflecken auf dem Wasser. Die Quelle, aus der sich die Therme speist, plätschert mit 46 Grad heißem Wasser, im Hintergrund rauscht das Meer. Sonst ist nichts zu hören. „Sie entspannen gerade“, haucht Vamvoukou. Einer der Badenden lässt den Körper ein wenig tiefer ins Wasser gleiten. Sie kann das. So zu säuseln, dass man ganz weiche Knie bekommt.

Die Therme von Eftalou ist eine der Attraktionen auf der griechischen Insel Lesbos. Schon ihre Urgroßmutter sei hierhergekommen, sagt Vamvoukou, und deren Mutter auch. Heute ist sie für den Betrieb der Therme zuständig, außerdem bietet sie Yoga und Massagen an. Rund 10.000 Besucher kommen jeden Sommer nach Eftalou. Normalerweise, denn dieses Jahr ist alles anders. Die Saison ist zu zwei Dritteln vorüber, Eleftheria Vamvoukou hat noch keine 2.000 Eintrittskarten verkauft.

Die Tourismussaison entfällt dieses Jahr auf Lesbos  

Viele Touristen wollen dieses Jahr nicht auf Lesbos urlauben. Die Buchungen auf der Insel sind um mehr als 60 Prozent zurückgegangen. Es gibt auch andere Zahlen, die das Problem veranschaulichen, doch sie laufen alle auf das Gleiche hinaus: Die Tourismussaison dieses Jahr entfällt, Lesbos lebt auf Sparflamme.

Hoteliers, Gastronomen, Fremdenführer, Zulieferer, alle sind betroffen. „Eine Ferienwohnung, die ich vermiete, habe ich gar nicht erst geöffnet“, sagt Eleftheria Vamvoukou. Die wenigen Buchungen hätten die Kosten für den Betrieb nicht gerechtfertigt. In der Therme arbeitet sie dieses Jahr alleine, ihre zwei Kolleginnen sind diesmal nicht eingestellt worden. „Es gibt eh nichts zu tun, die meiste Zeit sitze ich da und warte“, sagt Vamvoukou und führt in den Massageraum im ersten Stock. Der kleine Holzbalkon davor hängt direkt über dem Wasser. Wohin man den Blick auch wendet, nur blaues Meer und in der Ferne, dunstig, die Umrisse der türkischen Küste. Von dort aus sind die Flüchtlinge vergangenes Jahr gestartet. 

Geflüchtete Menschen in Griechenland

Im vergangenen Jahr sind Hunderttausende Menschen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak über das Mittelmeer nach Griechenland gekommen – die meisten sind von dort aus dann weiter nach Norden gezogen. Allein im Oktober 2015 wurden in Griechenland mehr als 200.000 Ankünfte von über den Seeweg Geflüchteten gezählt. Seitdem gingen die Zahlen zurück – besonders stark, seit im März dieses Jahres zwischen der Türkei und der EU das Abkommen zur Flüchtlingsrückübernahme geschlossen wurde.
In den letzten Wochen sind allerdings wieder etwas mehr Menschen mit Booten in Griechenland angekommen. Nachdem das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) im Monat Juli noch 1.920 Menschen gezählt hatte, waren es im August 3.447. Zum Vergleich: Im August 2015 kamen 107.843 Menschen auf diese Weise nach Griechenland.
Weil mittlerweile jedoch viele Camps in Griechenland wieder geschlossen wurden, drohe nun eine erneute Überfüllung der vorhandenen Lager, warnt die Nichtregierungsorganisation „Save the Children“. Dem UNHCR zufolge leben auf der Insel Lesbos derzeit 5.660 Geflüchtete – bei einer Camp-Kapazität für 3.500 Menschen.

Niemand war auf die Ankunft so vieler Menschen vorbereitet. Vor allem die Behörden nicht. Hätten die Menschen auf Lesbos nicht so beherzt geholfen, es hätte noch viel mehr Opfer unter den Flüchtlingen gegeben. Sie retteten die Schiffbrüchigen und brachten den unterkühlten und erschöpften Ankömmlingen, was sie zu Hause hatten: Essen, Kleidung, Decken. Das Bild der 82-jährigen Emilia Kamvysi, die am Strand von Skala Sikamineas ein Flüchtlingsbaby fütterte, ging damals um die Welt. Im Oktober werden in Oslo die diesjährigen Friedensnobelpreisträger verkündet. Auch griechische Inselbewohner, unter ihnen Bewohner von Lesbos, sind zur Nominierung vorgeschlagen worden.

Eleftheria Vamvoukou hat die Bilder des vergangenen Sommers noch präsent. Mit den Flüchtlingen hadert sie nicht. „Niemand lässt ohne Grund sein Zuhause hinter sich, um mit seiner Familie in ein Schlauchboot zu steigen“, sagt sie. Dass sie auf Lesbos nun aber das Nachsehen haben sollen, findet Vamvoukou nicht gerecht. Und weshalb die Touristen die Insel nun meiden, kann sie ebenso wenig verstehen. „Manche haben mir gesagt, sie können nicht beim Essen sitzen, während in Sichtweite Flüchtlinge sind.“ Eleftheria Vamvoukou schüttelt den Kopf. „Dann sollen sie ihnen halt etwas zu essen geben.“ Das hätten sie selber auch getan. „Und wir haben beileibe keine Rücklagen.“

Es ist ohnehin ein theoretisches Problem, denn die Flüchtlinge sind für die Touristen auf Lesbos schon lange nicht mehr sichtbar. Es dauerte zwar Monate, doch am Ende reagierten die Behörden und fanden ein Vorgehen, mit dem allen geholfen war: Die Ankommenden wurden noch im Meer gerettet und mit Bussen zu eilig errichteten Aufnahmelagern im Hinterland gebracht. Doch da hatte Lesbos seinen Ruf schon weg, und auch die Tatsache, dass seit dem Deal mit der Türkei viel weniger Flüchtlinge als im vergangenen Jahr in Griechenland ankommen, konnte nichts daran ändern.

„Wir erleben eine Krise in der Krise“, sagt Eleftheria Vamvoukou. Die griechischen Gäste bleiben wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage schon seit Jahren aus. Nun fehlen auch die Gäste aus dem Ausland.

Das Hotel hat Platz für 300 Gäste, doch selbst in der Hochsaison sind nur 35 Gäste da 

Auch im Sunrise Resort, einem Luxushotel in der Nähe, ist man dieses Jahr unter sich. Auf der Terrasse, die die Bucht von Eftalou überblickt, sitzen der Besitzer, der Manager und dessen Frau. Die weitläufige Lobby, das Café, die Bar, das Restaurant: leer. Die Zimmer ebenso. Das Hotel hat für 300 Gäste Platz, doch selbst jetzt, in der Hochsaison, sind nur 35 Gäste da. Das ist nicht einmal genug, um die laufenden Kosten zu decken, das Hotel schreibt rote Zahlen. Jeden Monat. „Ein kühler Rechner würde den Betrieb schließen“, sagt Hotelmanager Theofilos Chavoutsiotis. „Aber wir bringen das nicht übers Herz, denn das Hotel ist ein Familienunternehmen.“  

Dabei bedeuten weniger Gäste nicht unbedingt weniger Arbeit. Im Gegenteil. Theofilos Chavoutsiotis hat das Personal dieses Jahr um gut zwei Drittel reduziert, um Kosten zu sparen. „Bestimmte Posten müssen aber besetzt sein, egal ob zum Beispiel zwei Gäste im Restaurant sitzten oder zwanzig.“ Die fehlenden Arbeitskräfte ersetzt Chavoutsiotis selbst. Hilft an der Bar aus, springt in der Küche ein, serviert, je nach Bedarf. In anderen Hotels läuft es ähnlich. Auf der Insel erzählt man sich von einem Hotelier, der nachts selbst an der Rezeption sitzt, um die Kosten für den Nachtportier einzusparen, von Hotels, die ihr Personal nicht bezahlen können, und von anderen, die zum Verkauf stehen. 

Die Hoffnungen der Inselbewohner ruhen nun auf möglichen Steuererleichterungen für die Region. Für Chavoutsiotis wäre das allerdings nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, denn er hat vor einigen Jahren einen Kredit über mehrere hunderttausend Euro aufgenommen, um das Hotel zu renovieren und auszubauen. Nun kann er die Raten nicht zahlen, und die Bank sitzt ihm im Nacken.

Wenigstens wenn er im Dienst ist, versucht der Hotelmanager darüber hinwegzusehen. „Die Gäste kommen zu uns, um aufzutanken. Da dürfen wir uns unsere Sorgen nicht ansehen lassen.“ Manchmal fragen ihn die Gäste, weshalb dieses Jahr keine Touristen kommen, immerhin hätten die Menschen hier die Ideale Europas verteidigt. Theofilos Chavoutsiotis hat darauf keine Antwort. Er weiß nur eines: Wenn sich an der Situation nichts ändert, werden sie nächstes Jahr nicht mehr öffnen. „Es wäre fahrlässig“, sagt er und blickt über die Bucht von Eftalou. Es ist windstill, das Meer liegt spiegelglatt da. Als wäre nie etwas geschehen. Flüchtlinge sind nirgendwo in Sicht. Touristen allerdings auch nicht.

Titelbild: Ton Koene/VWPics/Redux/laif