Es ist halb neun an einem ungemütlich kalten Oktobermorgen am nördlichen Stadtrand von Peking. Dutzende Männer hocken vor einem Zaun an einer breiten Straße. Mit Sand beladene Trucks donnern vorbei, sie sind unterwegs zu einer der vielen Großbaustellen, die Chinas Hauptstadt prägen. Die Fahrer haben es eilig und ignorieren die Bodenwellen, Staubfahnen hüllen die wartenden Arbeiter ein. Doch das scheint keinen zu stören: Viele rauchen noch eine Zigarette, bevor ein Wachmann das Sicherheitsschloss am Tor entfernt.

Im Gänsemarsch schieben sich die Männer hindurch. Bevor sie sich auf die Baustellen in dem reichen Wohnviertel verteilen, müssen sie sich bei dem Wachmann registrieren. Die Arbeiter kommen aus den ärmeren Provinzen Chinas, wo es kaum Jobs gibt. Ihnen bleibt oft keine andere Wahl, als ihre Bettrolle zu schnüren und als Wanderarbeiter in großen Städten wie Peking, Schanghai oder Shenzhen zu malochen, oft auf Baustellen. Pro Tag verdienen sie in den Metropolen etwa 150 Yuan, umgerechnet etwa 20 Euro. In kleineren Städten gibt es sogar nur den halben Lohn. Viele verzichten auf einen Ruhetag, um Geld für die Familie sparen zu können.

Die große Kluft zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“

Immerhin bekommen die Arbeiter Essen und freie Unterkunft in Wohncontainern gestellt, die oft gleich auf dem Baustellengelände errichtet werden. Ihre Frauen oder Schwestern haben es meist nicht besser: Sie plagen sich endlose Stunden in Fabriken, in denen zum Beispiel Kleidung, Spielzeug oder Autoteile hergestellt werden, die es dann in Deutschland und anderen westlichen Ländern billig zu kaufen gibt. In manchen Fabriken liegt der Monatslohn für ungelernte Arbeiterinnen bei gerade mal 1.500 Yuan, umgerechnet etwa 190 Euro.

China würde ohne diese Wanderarbeiter nicht funktionieren. Auch wenn das den allermeisten bewusst ist – Anerkennung oder Dankbarkeit bringen wohlhabende Chinesen ihren hart arbeitenden Landsleuten nur selten entgegen. „Früher war das anders“, erinnert sich eine ausländische Geschäftsfrau. „Als ich Anfang der 90er-Jahre nach China kam, herrschte ein anderes Klima. Die Menschen haben noch miteinander geredet, diese brutale Schere zwischen Arm und Reich gab es nicht.“

Vom planwirtschaftlichen Agrarstaat zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt

Die Ursache dafür findet sich vor allem in der Entwicklung des Landes in den letzten vier Jahrzehnten. Nachdem sich China ab 1978 dem kapitalistischen Westen schrittweise öffnete, schaffte es innerhalb weniger Jahrzehnte den Aufstieg vom planwirtschaftlichen Agrarstaat zur heute zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Westliche Firmen drängten in Pionierstimmung in das Reich der Mitte. Sie verlegten ihre Produktionsstätten nach China, wo zum Beispiel Kleidung oder Spielzeug wegen der sehr niedrigen Löhne deutlich billiger hergestellt und dann zu Hause mit hohem Profit verkauft werden konnten. Auch Unternehmen der Automobilbranche oder aus dem Technologiesektor waren begeistert über den neuen Absatzmarkt für ihre Produkte. Einheimische Geschäftsleute nutzten den boomenden Immobilienmarkt und verdienten große Summen, während Millionen ihrer Landsleute sich mit wenigen Yuan Tageslohn zufriedengeben mussten. Wer ein Stück vom Kuchen abhaben wollte, hatte sich aber auch den Regeln der Regierung zu unterwerfen: Westliche Autobauer mussten zum Beispiel vor Ort mit chinesischen Firmen in sogenannten Joint Ventures zusammenarbeiten. Google zensierte seine Suchergebnisse, bis sich der Konzern 2010 aus dem Land zurückzog.

 

Doch der Goldrausch produzierte auch ein sozial gespaltenes Land. Heute hat China 1,6 Millionen Millionäre – und mehr Milliardäre als die USA. Ein Viertel der Bevölkerung muss sich aber ein Prozent von Chinas Vermögen teilen – während ein Prozent der Bevölkerung über ein Drittel von Chinas Vermögen verfügt. Zwar bildet sich zwischen diesen Extremen in raschem Tempo eine zunehmend wohlhabende, konsumorientierte Mittelschicht. Doch eine wirkliche Pufferfunktion scheint diese nicht zu haben: Einer Studie der Pekinger Universität zufolge hat die gesellschaftliche Ungleichheit ein gefährliches Maß erreicht – es gibt mehr soziale Spannungen, was sich zum Beispiel in der zunehmenden Anzahl von Arbeitskonflikten und Demonstrationen widerspiegelt.

Aber auch: 800 Millionen Menschen über die Armutsgrenze gehievt

Die Armut zu bekämpfen sei eine der wichtigsten Aufgaben der Kommunistischen Partei, fordert Präsident Xi Jinping: Bis 2020 soll es in China keine Armut mehr geben, so steht es im aktuellen Fünfjahresplan der Regierung. In der Tat hat das Land schon viel geschafft. Die Weltbank bescheinigte den Machthabern in Peking, seit 1978 etwa 800 Millionen Menschen über die Armutsgrenze gehievt zu haben. Geschafft haben sie das vor allem mit einer kompromisslos auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Politik, finanziellen Zuschüssen an arme Kommunen und groß angelegten Umsiedlungsprogrammen. Immer mehr Dörfer werden wegen mangelnder Infrastruktur aufgegeben oder vernachlässigt. Den verarmten Bewohnern werden neue Unterkünfte am Rande von Metropolen zugewiesen – außerhalb der glitzernden Stadtzentren mit ihren immer gleichen Shopping-Malls, den Hochglanz-Bürotürmen und Edelrestaurants. Dort sind die Menschen einfacher und billiger zu versorgen.

Wer zum Beispiel im Umfeld der Großen Mauer, unweit von Peking, wandert, trifft immer wieder auf verfallende Ansiedlungen, die einst funktionierende Dörfer waren. Die löchrigen Straßen sind leer gefegt, nur in wenigen Gärten wachsen noch Mais und Kohl. An sonnigen Tagen sieht man alte Menschen draußen sitzen. Sie spielen Karten oder kümmern sich um ihre Enkelkinder. Streunende Hunde verscheuchen die wenigen Fremden, einige Hühner picken im Staub nach Essbarem. An kalten Wintertagen verbringen die Bewohner die meiste Zeit im Gemeinderaum, dem einzigen halbwegs warmen Ort im Dorf.

Eltern, die als Wanderarbeiter in die Metropolen ziehen, müssen ihre Kinder oft zurücklassen

Vor allem in den von ethnischen Minderheiten bewohnten Gebieten wie Xinjiang, Qinghai oder Ningxia herrschen elende Lebensumstände. In den ländlichen Regionen Chinas leben 55 Millionen Menschen, die noch immer weniger als 2.300 Yuan, knapp 300 Euro, zum Leben haben – im Jahr. Von den Regierungsprogrammen bisher nicht erreicht wurden vor allem viele Alte und Kranke.

Einem Bericht des britischen Senders BBC zufolge leben viele Millionen chinesische Kinder in prekären Verhältnissen. Schuld ist ein Kontrollsystem aus den 1950er-Jahren: Jeder Chinese wird in seinem Heimatort registriert und hat mit der „Hukou“ genannten Anmeldung nur dort Zugang zu sozialen Diensten, medizinischer Versorgung und Bildung. Wer in eine andere Stadt zieht, hat dort kein Anrecht auf diese Leistungen. Deng Xiaoping hat das Hukou-System Ende der 1970er-Jahre zwar etwas gelockert, sodass man für Städte temporäre Wohngenehmigungen erwerben kann, aber die sind teuer.

Eltern, die als Wanderarbeiter in die Metropolen an der Ostküste oder im Süden Chinas ziehen, lassen deshalb oft ihre Kinder bei den Großeltern auf dem Land zurück. Im schlimmsten Fall sind sie auf sich allein gestellt: Die Kinder bauen selbst Gemüse und Getreide an, sammeln Holz für den Herd, kochen, waschen, halten das Haus in Ordnung. Materielle Güter haben nur die wenigsten, allenfalls ein altes Handy, um ab und an mit den Eltern zu sprechen. Die Schulbildung vieler Kinder ist minimal.

Die chinesische Regierung arbeitet aktuell daran, das Hukou-System zu lockern. Dann könnten Wanderarbeiter, die länger als ein halbes Jahr in einer Stadt gemeldet sind, ihre Kinder nachholen und dort zur Schule schicken.

Normal: mit einem Lamborghini vorfahren und für Tausende Euro eine spontane Party schmeißen

Der Nachwuchs von Chinas neureichen Millionären lebt indes in den elitären Sphären der Imperien, die ihre Eltern nach der wirtschaftlichen Öffnung Chinas insbesondere in ausgewiesenen Sonderwirtschaftszonen in den 1980er- und 90er-Jahren quasi aus dem Nichts erschaffen haben. Ob im Immobiliengewerbe, im Computergeschäft oder im Energiesektor – binnen zwei Jahrzehnten gelang es Leuten wie Wang Jianlin (er gründete den Immobilien- und Unterhaltungskonzern Wanda) oder Jack Ma (Gründer des Online-Versandriesen Alibaba), enorme Summen zu verdienen. „Das Tempo, mit dem in China Vermögen aufgebaut wurde, ist in der Menschheitsgeschichte ziemlich einmalig“, sagt der amerikanische Politikprofessor Jeffrey Winters.

Doch der Umgang mit Geld will gelernt sein – und das haben viele superreiche Sprösslinge nicht. In China werden sie „Fuerdai“ genannt: die „reiche zweite Generation“. Im Gegensatz zu ihren Eltern mussten die Fuerdai nie arbeiten, denn Geld war einfach da. Und zwar genug, um mit einem Lamborghini vor der Bar vorzufahren und dort für Tausende Euro eine spontane Party zu schmeißen. Oder um seinen Hund mit zwei goldenen Uhren zu schmücken und die Fotos stolz zu posten. Diese Aktion von Wang Sicong, dem Sohn des Immobilienmilliardärs Wang Jianlin, hatte Folgen: In staatlichen Medien wurde dem Milliardärssohn die Verherrlichung und gedankenlose Zurschaustellung von Reichtum vorgeworfen.

Im Jahr 2013 wurde Xi Jinping Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, und seit seiner Anti-Korruptions-Kampagne sind die früher üblichen opulenten Bankette für Parteikader und Wirtschaftsgrößen tabu. Über die Fuerdai zürnte Xi öffentlich: „Die Nachkommen von privaten Geschäftsleuten müssen kapieren, wo ihr Geld herkommt und dass sie ein positives Leben führen sollten.“ Laut der staatlichen Zeitung „Beijing Youth Daily“ zitierte die Regierung vorletztes Jahr 70 Kinder superreicher Eltern zu Crashkursen in Sachen chinesische Werte und soziale Verantwortung.

Kinder superreicher Eltern wurden zu Crashkursen in Sachen chinesische Werte verdonnert

Doch nicht nur zu Hause fallen die neureichen Kids auf. Viele zieht es spätestens zum Studium ins Ausland, vor allem in die USA und nach Kanada. In großem Stil haben Chinesen dort Immobilien gekauft – der Wohnungsmarkt ist stellenweise für Einheimische nahezu unerschwinglich geworden. Bestes Beispiel ist, wie der „Guardian“ 2016 berichtete, die kanadische Stadt Vancouver, die wegen des relaxten Lebensstils und der guten Freizeitmöglichkeiten besonders hoch im Kurs steht. Der Lebensstil wohlhabender Chinesinnen und Chinesen ist hier sogar Teil von Inszenierungen der Unterhaltungsindustrie geworden. Die Realityshow „Ultra Rich Asian Girls of Vancouver“ verspricht einen Einblick in das Leben mancher Fuerdai, die nie gelernt haben, Geld nicht mit beiden Händen auszugeben.

 Zurück in die Heimat wollen nur wenige Fuerdai, was ihren Eltern oft ganz recht ist. Denn Reichtum schützt in China nicht vor Willkürakten. Wer nicht beste Verbindungen zur Kommunistischen Partei hat oder diese verspielt, kann sich seines Vermögens nicht sicher sein. Ein Korruptionsvorwurf ist schnell inszeniert, wenn man in Ungnade gefallen ist. Also schaffen so manche Selfmade-Millionäre ihr Geld und den Nachwuchs lieber außer Landes, auch wenn das ihre Geschäftsmöglichkeiten einschränkt. Ein chinesisches Sprichwort besagt: „Reichtum hält nicht länger als drei Generationen.“ Danach wäre der Spuk der Neureichen mit der nächsten Generation, den Fusandai, vorbei.

Titelbild: Pictures Ltd./Corbis via Getty Images