Boah, ist das wieder voll heute. Gerade hat sie einer angerempelt. Das halbe Bier ist auf der Jeans gelandet. Sie dreht sich um. Der schon wieder. Komischer Typ. Was grinst der so? Und war das mit der Hand da jetzt Absicht oder ein Versehen – schon wieder? Sie könnte jede junge Frau in jeder Stadt an jedem Abend sein. Sie quetscht sich durch zur Bar und bestellt kein neues Getränk. Stattdessen fragt sie: „Ist Luisa hier?“

„Ja, Luisa ist hier. Ich bring dich zu ihr.“

So reagieren Barkeeper in rund 30 Clubs und Kneipen in Münster neuerdings auf die Frage nach einer vermeintlichen Kollegin. Ohne weitere Fragen werden junge Frauen dann in einen sicheren Bereich der Lokalität gebracht. Die Kampagne des Frauen-Notrufs Münster soll es Frauen erleichtern, sich beim Ausgehen unangenehmen Situationen zu entziehen. Das können Situationen sein, in denen man sich bedrängt fühlt, angegrapscht wird oder auch feststellt, dass der Typ von Tinder, mit dem man davor so nett gechattet hat, aufdringlich wird.

Plakate auf den Damentoiletten sollen die Unterstützung durch „Luisa“ bekannt machen

Auch in der „Cavete“, Münsters ältester Studentenkneipe, hängen seit Kurzem die hellblauen Plakate auf den Damentoiletten, auf denen groß „Luisa ist hier“ geschrieben steht. So soll das Projekt bekannt gemacht werden. Geschäftsführer Tobias Reiter hat das Konzept sofort überzeugt: „Zack, wir bringen dich raus – und keiner fragt, wieso, weshalb, warum“. Er und seine Mitarbeiter haben vom Frauen-Notruf dafür eine Schulung bekommen.

Wenn jemand nach Luisa fragt, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das Barpersonal kann erst einmal die Jacke an der Garderobe holen, ein Taxi rufen, das Mädchen durch den Hinterausgang hinausbegleiten oder im Ernstfall die Polizei verständigen. Immer gilt aber: keine Fragen zur Tat oder zum Täter stellen, keinen großen Aufriss machen.

Der Code – statt nach Hilfe –, einfach nach Luisa zu fragen, soll die Hemmschwelle besonders für junge Frauen heruntersetzen und vermeiden, dass Opfer sich für irgendetwas rechtfertigen müssen. Frauen, die den Barkeeper andernorts auf aufdringliche Typen aufmerksam machen, müssen nicht selten erst einmal erklären, was genau vorgefallen ist. 

Die Idee stammt aus England  – dort heißt „Luisa“ aber „Angela“

Das Projekt läuft in Münster gerade erst an, deshalb gibt es noch keine Erfahrungen, wie Luisas Unterstützung angenommen wird. In der „Cavete“ hat bisher noch niemand nach ihr gefragt. Tobias Reiter wünscht sich, dass das auch so bleibt. „Der kluge Mensch baut vor. Wir hoffen, dass es dank Luisa nicht mehr Fälle, sondern eher weniger werden.“

Die Idee stammt aus England, genauer gesagt aus Lincolnshire, einer Grafschaft im Osten des Landes mit etwa einer Million Einwohner. Dort hat Hayley Child, die städtische Beauftragte im Kampf gegen sexualisierte Gewalt, „Angela“ erfunden. Der Name, ein Wortspiel mit dem englischen Wort „Angel“, steht für einen Schutzengel, nach dem Barbesucher genau wie in Münster an der Theke fragen können. Über soziale Netzwerke verbreitete sich die Kampagne rasant, die meisten Beiträge forderten: Das muss es überall geben. Tatsächlich soll Angela bald in Bars im gesamten Vereinigten Königreich auf ihren Einsatz warten.

„Hier musste den Code noch niemand nutzen, aber es ist gut zu wissen, dass man sicher ist“

Evaluiert wurde das Programm bislang nicht. Ob und wie viele Frauen tatsächlich schon nach Angela gefragt haben, kann Hayley Child nicht sagen. Sie bekommt immerhin positives Feedback vom Barpersonal. Die meisten seien froh zu wissen, wie sie sich im Fall der Fälle zu verhalten haben, sagt sie. Ellen Kelman ist Eventsmanagerin der Lincolner Revolution Bars-Gruppe. Sie glaubt, Angela gibt auch den Gästen ein gutes Gefühl: „Hier musste den Code noch niemand nutzen, aber es ist gut zu wissen, dass man sicher ist.“

Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt stehen immer wieder in der Kritik

Doch so viel Zuspruch die Kampagne in den sozialen Netzwerken auch findet – spätestens seit den Übergriffen in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 und dem daraufhin von Oberbürgermeisterin Henriette Reker etwas unglücklich geäußerten Ratschlag an junge Frauen, „eine Armlänge Abstand“ zu halten, gibt es große Kontroversen um Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt. Müssen Frauen einen bestimmten Nagellack auftragen, der K.-o.-Tropfen im Getränk signalisiert? Müssen sie Pfefferspray und Trillerpfeife bei sich tragen? Oder Selbstverteidigungskurse belegen? Nein, sagen Kritiker: Frauen müssen auch splitterfasernackt durch den Kölner Hauptbahnhof laufen oder im rappelvollen Club tanzen können, ohne Angst vor sexualisierten Übergriffen und Vergewaltigung haben zu müssen. Die Verantwortung, so die Logik dieser Argumente, liegt niemals beim Opfer, sondern immer beim Täter. Im Umkehrschluss machen Präventionsmaßnahmen Frauen mitverantwortlich.

Präventionsmaßnahmen also nur für potenzielle Täter? In der Theorie klingt das plausibel. „Aus der Praxis wissen wir leider, dass das nicht so einfach umzusetzen ist“, sagt Gerlinde Gröger vom Frauen-Notruf Münster. Frauen kämen immer wieder in Situationen, in denen sie schlicht Hilfe benötigen. 

„Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung für sexuelle Gewalt“

So wie Kristin zum Beispiel. Die 21-Jährige studiert in Münster und ist froh, dass sie sich jetzt auf Luisa verlassen kann. Ihr fällt spontan mindestens eine Situation ein, in der sie das Angebot genutzt hätte: Sie tanzt mit ihren Freunden in einem Club. Ein junger Mann kommt auf sie zu, spricht sie an. Sie macht ihm klar, dass sie kein Interesse hat. „Er ist dann weggegangen, hat mich aber immer weiter aus der Ferne beobachtet und Blickkontakt gesucht. Als wäre das nur ein Spiel, dass ich ihm gesagt habe, ich will nicht“, sagt sie. Kurz bevor sie nach Hause gehen will, vergewissert sie sich, dass er nicht in der Nähe ist und sie beobachtet oder ihr gar folgt. „Mir wäre schon wohler gewesen, wenn mich jemand ins Taxi gesetzt hätte“, sagt Kristin.

Und da liegt der Unterschied zu anderen Präventionsmaßnahmen: Luisa bedeutet, Hilfe zu bekommen, und bezieht andere mit ein. Wenigstens ein Teil der Verantwortung wird abgegeben, wenn auch nicht an den potenziellen Täter. Katharina Göpner vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe findet die Kampagne deshalb besonders gelungen. Sie glaubt: „Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung für sexuelle Gewalt und eine Verantwortungsübernahme von ganz vielen.“

Übrigens: Natürlich dürfen auch Männer, die Hilfe brauchen, nach Luisa fragen.

Illustration: Raúl Soria