Es ist nicht ganz leicht, bei »Si An« Truong einen Tisch zu bekommen – zu sehr trifft der Vietnamese den Geschmack in Prenzlauer Berg. Die Wände sind dezent mauvefarben gestrichen, auf den Tischen stehen Origami-Kraniche, die Einrichtung ist minimalistisch – und dass Katie Holmes und Tom Cruise schon hier gegessen haben, ist dem Geschäft auch nicht abträglich. Das Beste ist: Si An Truongs Kunden zahlen gern ein bisschen mehr, wenn im Essen ein bisschen weniger ist. »Eigentlich gehört auch Glutamat zu den Esstraditionen. Besonders in Nordvietnam wird es viel verwendet«, sagt der Restaurantbesitzer, der weiß, dass die meisten seiner Gäste allergisch auf den Geschmacksverstärker reagieren – im übertragenen Sinne, manche aber auch wortwörtlich. Dabei ist der Zusatz so schön effektiv: Statt fünf Hühner braucht man für einen großen Topf aromatische Suppe nur zwei. Insbesondere in schweren Zeiten, etwa im Vietnamkrieg, um Soldaten zu verköstigen, sei es reichlich verwendet worden, erzählt Si An Truong. Tatsächlich stehen in Suppen- und Garküchen in China und Vietnam häufig Glutamat-Spender auf den Tischen. In Europa aber ist die Angst vor dem »China-Restaurant-Syndrom« groß, demzufolge Wan-Tan-Suppe oder Ente kross zu Kopfschmerzen und Übelkeit führen können. Als der Koch des Düsseldorfer Luxusrestaurants »Schiffchen« vor einigen Jahren bekannte, seine kulinarischen Kompositionen mit einer Prise Glutamat abzurunden, strich ihn der Gourmet-Führer Gault Millau prompt für einige Zeit aus der Wertung.

Mononatrium-Glutamat (so die genaue Bezeichnung) begegnet uns mit beinahe jedem Bissen: Es steckt nicht nur in Chips und Tiefkühlpizza, wo es unter dem kryptischen Kürzel »E621« als am häufigsten verwendeter Geschmacksverstärker der Lebensmittelindustrie auftaucht. Es kommt auch natürlich in vielen Lebensmitteln vor, etwa in Tomaten, Käse und Schinken. Denn Glutamat ist das Natriumsalz der natürlichen Aminosäure Glutaminsäure und ist in jedes Eiweiß eingebunden. Wenn das Eiweiß zerfällt – etwa wenn Käse reift oder Schinken trocknet – wird die vormals gebundene Säure freigesetzt und vermehrt sich. Sogar in der Muttermilch ist Glutamat. Dabei ist Glutamat mehr als nur ein Geschmacksverstärker, es ist ein fünfter Geschmack neben süß, sauer, salzig und bitter, den man mit bouillonartig umschreiben könnte. Es gibt dafür eigene Rezeptoren auf der Zunge, vermutlich um Eiweiß anzuzeigen, das ein lebensnotwendiger Nährstoff ist. Vor gut 100 Jahren wurde dieser Geschmack vom japanischen Chemiker Kikunae Ikeda entdeckt, der ihn »umami« taufte, was so viel wie »lecker« heißt. Ikeda stellte fest, dass Tofu mit Tang-Brühe weitaus intensiver schmeckte. Er untersuchte die Brühe und isolierte eine Säure, die Glutaminsäure, dessen Natriumsalz im 20. Jahrhundert eine Weltkarriere hinlegte.

Wie schädlich der Stoff ist, darüber wird seit Jahrzehnten gestritten. Der Medizinprofessor Michael Hermanussen ist ein vehementer Kritiker von Glutamat, das er für einen gefährlichen Gefräßigmacher hält – obwohl er selbst für sein Leben gern Seranoschinken, Parmesan oder Leberwurst isst. »Wir essen heute, was uns schmeckt, und nicht mehr wie früher das, was gerade da ist«, sagt Michael Hermanussen. Und da den meisten Fleisch und Milchprodukte besser schmecken als Obst und Gemüse, ist der Konsum von Glutamat in den vergangenen 30 Jahren stark angestiegen – besonders in Fertiggerichten und Fast Food wimmelt es vor Zusatzstoffen, die manche Wissenschaftler für regelrechte Krankmacher halten. Eine Störung des Glutamatstoffwechsels im Gehirn soll für Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Epilepsie, Choreahuntington und Adipositas verantwortlich sein. Einzig: Keine Forschungsmeinung konnte sich bislang durchsetzen, obwohl Glutamat einer der bestuntersuchten Zusatzstoffe ist. Aber trotz rund 100.000 medizinischen Studien herrscht eine bemerkenswerte Unklarheit darüber, ob Glutamat nun gefährlich ist.

Macht das Pulver gefräßig?

Rund 20.000 Tonnen Glutamat werden in Deutschland jährlich verarbeitet. Das ist fünfmal so viel wie vor 1980. Weltweit werden 1,5 Millionen Tonnen Glutamat hergestellt. Der Grund für diesen Erfolg: Über die Hälfte der Herstellungskosten in der Lebensmittelindustrie sind Rohstoffkosten, und die können mit Glutamat deutlich gesenkt werden. Statt teurer Zutaten wie Fleisch, Käse oder Shrimps kann man mit Glutamat eine Illusion von Geschmack erzeugen und spart bares Geld. Der Lebensmittelmulti Nestlé, der auch Maggi herstellt, begründet die Unbedenklichkeit von Glutamat gern mit dem »Hohenheimer Konsensusgespräch«, an dem 1996 führende Wissenschaftler teilnahmen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Glutamat keine gesundheitlichen Schäden hervorrufe. Den Gastgeber dürfte das gefreut haben: Eingeladen hatte der japanische Lebensmittelkonzern Ajinomoto, der weltweit größte Glutamat-Hersteller.

Doch auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. hält Glutamat für unbedenklich, sagt eine Sprecherin. Natürlich gebe es Vermutungen und Hinweise, doch abschließende Beweise hätte man noch nicht. Und so lange das so sei, wären bei einem mäßigen Konsum von Glutamat keine gesundheitlichen Schäden zu befürchten. Bei der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch ist man da skeptischer. Glutamat sei »der Grund, warum man die Chipstüte leer isst«, heißt es dort. Auch die gängige Lebensmittelkennzeichnung prangern die Nahrungswächter als irreführend an. Häufig finde sich statt dem Kürzel »E621« harmlos klingende Bezeichnungen wie Würze, Aroma, fermentierter Weizen oder Trockenmilcherzeugnis auf den Verpackungen. Bei Bio-Produkten wird Hefeextrakt angegeben, hinter allem aber verbirgt sich nichts anderes als Glutamat.

Den Mediziner Hermanussen macht das wütend: »Wir wissen, dass Glutamat gefräßig macht, aber das wird ignoriert und weggeredet.« Er fordert, dass Lebensmittel, die technischhergestellt sind, einer Prüfungspflicht unterliegen sollen wie Arzneimittel. Seit Jahren forscht er über den Zusammenhang zwischen Glutamat und der Appetitregulation. Sein Ergebnis: Von Lebensmitteln mit viel Glutamat essen wir mehr. Nicht nur, weil es gut schmeckt und wir eigene Rezeptoren auf der Zunge haben, die den Umami-Geschmack erkennen, sondern weil es die natürliche Sättigungsregulation im Gehirn zusammenbrechen lässt. Denn über die Nahrung zugeführtes Glutamat kann über den Darm ins Blut und von da aus unter Umständen ins Hirn gelangen, wo es eh als Neurotransmitter wirkt, also als Botenstoff im Zentralnervensystem. Dort, so konnte Hermanussen zeigen, stellt zu viel Glutamat eine Menge Unsinn an: Wir wissen nicht mehr, wann wir satt sind. Und essen immer weiter. Das ist nicht nur gesundheitlich bedenklich, sondern auch eine ziemlich freudlose Vorstellung – denn in hohen Dosen verödet Glutamat die Geschmacksnerven. Und irgendwann schmeckt alles, was wir essen, ziemlich gleich. Und das ist dann so ziemlich das Gegenteil von »umami«.

Felix Denk (31) ist direkt nach dem Schreiben dieses Artikels nach Indien geflogen – er hat uns aber versichert, dass er versuchen will, dort ohne Glutamat auszukommen.