Man muss sich das wahrscheinlich ein bisschen ekelig vorstellen: Wenn die Europäer in den Städten früher Wasser brauchten, gingen sie zum öffentlichen Brunnen und ließen einen Eimer herab – der dann zuweilen mit einer recht unansehnlichen Brühe wieder hochkam, nicht selten schwammen noch Fäkalien darin. Ein Segen war es daher, als die ersten städtischen Wasserleitungen in Betrieb gingen, in Augsburg gab es schon 1433 eine.

Vor allem ab 1870 wurde vielen gerade industrialisierten deutschen Städten klar, dass es chaotisch enden könnte, die wachsenden Menschenmassen sich selbst zu überlassen: Zu den Wasserleitungen kamen nun Müllabfuhr, Gasnetze oder Stromleitungen hinzu. Doch Stadtwerke waren nicht überall in Europa eine Selbstverständlichkeit. Als sich im 19. Jahrhundert in schnell wachsenden englischen Städten wie Birmingham der Müll türmte und Arbeiter in engen Zimmern zusammengepfercht ohne fließend Wasser ihr Dasein fristeten, sah die ­sozialreformerische „Fabian Society“ die Städte in der Pflicht, die Probleme zu lösen. Von den Manchester-Liberalen aber wurden städtische Bemühungen, infrastrukturelle Dienstleistungen zu schaffen, als marktfremder „municipal socialism“ verspottet.

Schließlich setzte sich auch in England die Überzeugung durch, dass der Staat mit einem öffentlichen Sektor nicht nur für glücklichere Bürger, sondern auch für Wirtschaftswachstum sorgen kann. Nach 1945 verstaatlichte die britische Labour-Regierung Schlüsselindustrien und Stromwirtschaft.

Bis es – zwei Ölkrisen und einen riesigen Schuldenberg später – in den 1980er- und 1990er-Jahren zu einem radikalen Wandel kam: „Die Briten haben sich vom Sozialismus verabschiedet“, ­verkündete Margaret Thatcher bei ihrem ersten Wahlsieg 1979. Die konservative Premierministerin, die „Eiserne Lady“ genannt, sorgte für umfassende Privatisierungen wie der des Energiesektors 1989, zudem hielten neue Arten der Steuerung in den öffentlichen Sektor Einzug: Vertragsmanagement, Ergebnis-Orientierung, Dezentralisierung – das waren die betriebswirtschaftlichen Zauberwörter jener Zeit.

Die EU will fairen Wettbewerb – und half so den Energiekonzernen

Weg vom trägen Wohlfahrtsstaat hin zum effizienten „schlanken Staat“, so lautete auch bald das Motto im wiedervereinigten Deutschland. Dort kur­belte vor allem die Europäische Union die Privatisierungen im kommunalen Raum mächtig an. Auf dem gemeinsamen Binnenmarkt sollten nämlich bei öffentlichen Ausschreibungen alle Un­ternehmen unter gleichen und fairen Bedingungen mitmachen können; weder staatliche Monopole noch Subventionen sollten einige Auserwählte besserstellen. Dumm gelaufen für die Stadtwerke: Das an eine EU-Richtlinie angelehnte Energiewirtschaftsgesetz von 1998 stärkte ­besonders Energiekonzerne wie RWE, EnBW und Vattenfall, der Marktanteil der Stadtwerke hingegen schrumpfte. Im Gegensatz zum Strom blieb die Wasserversorgung oftmals bei den Kommunen, allerdings nahmen die Wasserwerke vielerorts Großunternehmen als Aktionäre an Bord.

Die ambitionierten Pläne gingen leider nicht überall auf. „Es gab einige Privatisierungen, die funktioniert haben, andere, die nicht funktioniert haben. Sei es, weil man den falschen Partner ausgewählt hatte, ihn nicht richtig überwachte oder die Kriterien ungenau formuliert hat“, sagt Martin Burgi, Staatsrechtler an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hellmut Wollmann, emeritierter Professor für Verwaltungslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin, schrieb in einem Aufsatz (PDF), dass Untersuchungen nahelegten, „dass der kommunale Sektor in der effizienten ­Erbringung öffentlicher Dienstleistungen dem privaten Sektor ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist“.

Das ­gelte gerade für die immer wichtiger werdenden grünen Techno­logien: „Die kommunalen Betreiber haben mehr ­Erfahrungen und daher eine deutliche Stärke im Umgang mit Tech­niken für erneuerbare Energien.“ Ein weiteres Argument der Kommunalisierungsbefürworter ist, dass die Bürger von Über­schüs­sen profitieren könnten: Die werde ein kommunales Stadtwerk eher als ein rein marktgesteuertes Unternehmen in die Qualität und einen günstigen Verbraucherpreis stecken oder auch dafür nutzen, die Umwelt zu schützen. Das Geld bleibe in der Region.

Auf der anderen Seite läuft es auch in kommunaler Hand nicht automatisch rund. Korruptionsskandalewie beim Kölner Abfallentsorger AVG zeigen, dass auch eine Versorgung in mehrheitlich öffentlicher Hand zu eigenen Vorteilen ausgenutzt und zum Spielball der Politik werden kann

Die Finanzkrise hat das Vertrauen in Privatisierungen erschüttert

Ob nun rein private Anbieter, die Stadtwerke oder Mischformen den Job besser machen, lässt sich nicht genau ­sagen. Wissenschaftler untersuchen eher Einzelfälle. Dennoch läuten bei vielen Bürgern und Politikern die Alarmglocken, wenn Privatisierungen im Gespräch sind. Woran liegt das? Staatsrechtler ­Burgi ist sich sicher: Die Finanzkrise ist schuld. „Sie hat das Vertrauen in Märkte und Private erschüttert, über die Parteien hinweg“, erklärt er. „Die Region – die Stadt – wirkt hingegen berechenbarer.“

In Berlin befindet sich seit Jahren ein kommunales neues Stadtwerk in Gründung. Vielerorts treten Bürger­initiativen dafür ein, dass Teile der Daseinsvorsorge wieder direkt von den Kommunen übernommen werden, also die Grunddienste einer Stadt in den Bereichen Energie, Wasser, Abwasser sowie Verkehr und Soziales (beispielsweise Krankenhäuser). Kommunalisierungen feiern ihr Comeback, besonders im Energiesektor: Ein Teil der auf 20 Jahre begrenzten Verträge – sogenannte Konzessionen – mit Versorgungsunternehmen für Strom und Gas läuft nämlich gerade aus. Zahlreiche Kommunen können dann erneut entscheiden, wer den Job machen soll. Laut dem Verband kommunaler Unternehmen e. V. haben seit dem Jahr 2007 inzwischen 234 Kommunen die Konzessionen ihrer Strom- und Gasnetze wieder selbst in die Hand genommen, und über 140 Stadtwerke wurden seit 2005 neu ­gegründet.

Erst im Juli dieses Jahres sprachen sich über 70 Prozent der abstimmenden Augsburger gegen eine Fusion der Energiesparte der Stadtwerke mit Erdgas Schwaben aus, die von ihren Gegnern als „Weg in die Privatisierung“ bezeichnet wurde. „Die Leute glauben diesen neo­liberalen Irrsinn nicht mehr, dass wir unbedingt Wettbewerb und Konkurrenz brauchen und dass Privatisierungen, ­Fusion und Größerwerden die einzigen Lösungen darstellen“, unterstreicht Bruno Marcon, Sprecher der Bürgerinitiative „Augsburger Stadtwerke in Augsburger Bürgerhand“.

Es scheint so, als sei die Idee der Versorgung durch die eigene Stadt heute so erfrischend wie vor rund 600 Jahren – als die erste Wasserleitung in Augsburg in Betrieb ging.

Sabrina Gaisbauer ist Referentin bei der Bundeszentrale für politische Bildung