Oma sagt, das Brot vom Supermarkt schmeckt nach Stroh. Sie will das vom Bäcker im Erdgeschoss, seit 30 Jahren kauft sie bei ihm. Sie will ihre Neujahrsbrezeln und den Nusskuchen von dort. Dieser Nusskuchen ist der falsche, sagt Oma, tonlos und eher zu sich, so als sei es die Aufregung nicht mehr wert. Malina hat schon öfter Brot im Supermarkt gekauft, weil sie den Bäcker zu teuer findet, und einmal hat sie statt Neujahrsbrezeln normale Brezeln mitgebracht. Malina kommt aus der Nähe von Krakau und spricht wenig Deutsch. Neujahrsbrezeln!, hat Oma gesagt, so viel wird sie doch noch verstehen.

Malina gibt Milch in Omas Tasse, zwei Löffel Zucker; süß, weiß, heiß, sagt sie dabei. Sonst sagt das immer Oma. Sie reicht ihr den Löffel mit der Flüssigkeit gegen Magenprobleme, und dann die Tablettendose. Morgens eine halbe. Abends eine große und zwei halbe. Im Frühjahr war Oma rückwärts auf Marmor gestürzt. Sie blutete im Auge und im Gehirn, Subduralhämatom. Sie hat schon einen Herzschrittmacher, nimmt Schlaftabletten, dazu kommt die künstliche Herzklappe, die sie seit zwölf Jahren trägt.

Oma hatte sich auf der Intensivstation die Schläuche abgerissen, sie hatte geschrien und geglaubt, Opfer einer Verschwörung geworden zu sein. Sie hatte nach der Polizei verlangt und aufgehört zu schlafen. Über den Pfleger sagte sie, er sei der Teufel. Und zu Mama: Ich will nicht mehr. Die Vorstellung, dass der Pfleger der Teufel ist, fällt leichter als die Vorstellung, dass Oma schreit.

Sie sitzt da, 88, die Haare neu gemacht, die gute Strickjacke an, sie fragt: Kennst das Lied von dem mit der Mütze? Ötzi heißt der. Einen Stern, singt Oma den Refrain, der deinen Namen trägt, hoooch am Himmelszelt. Mit der linken Hand wippt sie im Takt, am Finger ihr Ehering und Opas Ehering darüber. Vor einer Weile hat sie ihn verkleinern und mit einem Saphir versetzen lassen. Manchmal denk ich dran, was er gern gegessen hat, sagt sie. Mischmasch? Ja. Und Blumenkohl mit Fleisch. Oma muss lachen. Gib mir mal deine Hand.

Malina wischt den Tisch ab, greift die verschränkten Hände, hebt sie hoch, fährt mit dem Tuch unter ihnen hindurch, legt sie wieder ab. So, sagt sie. Jetzt weiter. Oma guckt ihr nach. Weißt, am Anfang hat die Marlene alles verstellt. Töpfe, Schüsseln. Die ganze Küche. Mama würde jetzt sagen: Sie heißt Malina, Mama.

Malina ist 58 und wohnt seit zwölf Wochen hier: Nach der Klinik war Oma acht Wochen im Pflegeheim, sie hatte einen Rollator bekommen und wieder mehr Kraft, aber – ich kann nicht richtig liegen, meine Augen sind schlimm – nicht genug, um länger allein zu leben. Oma wollte nach Hause. Mama wollte, was Oma wollte. Mamas Geschwister wollten das Pflegeheim. Malina war beides: Pflege und zu Hause. Malina war der Kompromiss. Sie kam als Konfliktlösung, bei der sich Fragen stellten: Aus Osteuropa – ist das überhaupt legal? Und was soll so eine 24-Stunden-Betreuung kosten?

Als Malina bei Oma einzog, hatte sie bereits vier Frauen gepflegt, drei in Deutschland, eine in Süditalien. Eine dement, eine tot, sagt sie, mein Mann auch tot, oder: Daheim ist besser. Dort sind ihre Söhne und ihre Schwestern. Aber daheim gibt es keinen Job. Bei der ersten Begegnung stand sie in dem alten Haus im ersten Stock, wo es meistens ein bisschen zu warm ist, und gab Oma die Hand. Ich: Malina.

Sie brachte ihre Koffer in das Zimmer, in dem Opa früher Möbel entworfen hat, am Fenster sein Schreibtisch von damals, im Schrank die kleine Bar. Sie sah sich in der Wohnung um und zeigte auf die Waschmaschine: Warum noch Pulver und keine Tabs? Oma kratzte in der Nacht vor Angst ein Stück Tapete von der Wand.

Mit ihrem Rollator hat sich Oma an den Ort bewegt, der ihr die meiste Geborgenheit bietet: ihr Wohnzimmer. Wie lange quietschen die Dielen zwischen Fernseher und Sessel schon an derselben Stelle? Wie steht man von diesem Sofa wieder auf? Wie die Trägheit hier zu dir kriecht, dumpf macht und benebelt: als drücke die Heizungsluft auf den Verstand.

Omas Raffgardinen sind bestickt und hängen tief. Die Orchideen auf dem Fensterbrett rahmen sie so ein, dass kaum noch Fensterglas zu sehen ist. Das muss so sein, damit die Nachbarn nicht reinsehen können, Oma aber zwischen den Blumen und durch die löchrige Bestickung hinausschauen kann. Oma fand, Malina gieße ihre Orchideen zu oft. Da war Wasser im Untersetzer. Sie fand, die Topfpflanzen draußen auf dem Balkon gieße Malina zu selten. Brottrocken, alle.

Kennst die schon?, fragt Oma. Sie öffnet den Deckel einer Spieluhr. "Doktor Schiwago". Schön, oder? Wenn man abends so sitzt.

Malina schaut auf die gerahmten Fotos im Regal, Enkel in Farbe, Töchter in Schwarz-Weiß. Das du? Das Teresa. Das auch. Das Flo. Das Jenny. Das Caro. Das, sie dreht sich zu Oma, das dein Mann. Oma nickt. Aus einer Kiste kramt sie Zeitungsausschnitte, Opas Todesanzeige, dann lose Bilder, Hochzeiten, Kinder, Opa als Soldat. Bei einem bleibt Malina hängen, vier Kameraden in Uniform, Opa ist der links. Sie dreht die Aufnahme um und liest vor, was dort steht: 1939. Neunzehnhundertneununddreißig, sagt Malina. Das war Polen? Das war Polen.

Malina will einkaufen, runter zu Rewe, durch den Tunnel und gleich links. Sie zieht ihre Jacke an und den Schal.

Morgen Suppe? Willst du Salat? Feldsalat. Ja. Alles will sie alleine machen, hat Oma mal gesagt. Ich hab’s nicht gern, wenn sie sonntags die Wäsche raushängt. Sonntags wäscht man nicht. Manchmal wird sie laut. Sie lässt die Fenster lange auf.

Malina hat ein Polnisch-Deutsch-Wörterbuch mitgebracht. Was bedeutet stur?, hat sie Mama beim Durchblättern gefragt. Mama hat ihr erklärt, wie man das Wort gebraucht. Du bist stur wie ein Esel, hat Malina danach zu Oma gesagt. Malina hat gekichert und Oma auch. Malina ist wendig, sie sucht die leeren Pfandflaschen zusammen, sie fragt: Mehr Bier? Sie läuft von Oma zum Bad zu Oma zum Balkon zu Oma. Jeden Tag geht sie für mich einkaufen, sagt Oma. Jeden Tag.

Jeden Morgen wäscht sie Oma und zieht sie an, erst den Pulli über den Kopf, dann die Hose hoch. Wenn sie ihr die Hausschuhe anzieht, kitzelt sie Oma die Füße, bis sie lacht. Zum Frühstück riecht es dann, wie es immer riecht, nach Filterkaffee und Nusskuchen, nur gibt es zu den Neujahrsbrezeln nicht Hagebutten-, sondern Himbeermarmelade. Mittags schenkt Malina ein wenig Sekt in Omas Wasserglas. Most sagt sie dazu. So geht’s gut. Um 19.30 Uhr legt sie das Leberwurstbrot für Oma auf ein Holzbrett und um 20 Uhr Oma ins Bett: Gute Nacht, sagen beide. Tschüss. Und Kuss.

Malina küsst Oma also die Stirn, das muss man schön finden, auch wenn man es traurig findet: Früher war Oma länger wach als man selbst. Sie hat einem das Kissen zurechtgerückt und "Guten Abend, gut Nacht" gesungen, mi-hit Rooo-sen be-da-hacht.

Geht’s dir jetzt gut mit Malina, Oma? Aus einer anderen Kiste hat Oma Manschettenknöpfe gekramt. Willste die? Für Damen, ist vielleicht gerade nicht modern, aber vielleicht bald. Sie hat eine goldene Armbanduhr ausgepackt, meine erste, hat sie gesagt, Geld und Eier hab ich dafür gezahlt, nach dem Krieg. 40 Eier. Ja, sagt Oma. Und dass es ihr gut geht jetzt.

Sonst wär ich ja allein, ohne Marlene. Malina steckt den Kopf ins Wohnzimmer. Sie hat das Radio in der Küche aufgedreht. DJ Ötzi läuft, ziemlich laut. Der Stern, ruft sie, komm!

Malina führt Oma in die Küche, sie zieht ihre Jacke wieder aus und den Schal. Sie wippt mit den Hüften, dreht sich um sich selbst, einen Stern, Malina singt den Refrain, sie nimmt Omas Hände in ihre, der dei-nen Na-men trägt, hoooch am Him-mels-zelt. Oma tanzt. Den schenk ich dir heut Nacht.