So kann man sich täuschen. "Dass ich 1954 zwei Tore geschossen habe", sagte Helmut Rahn einmal, "interessiert doch heute keinen mehr." Vier Jahrzehnte waren vergangen, seit der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann im Berner Wankdorfstadion festgestellt hatte, dass ebendieser Rahn aus dem Hintergrund schießen müsste. Rahn schoss. Und traf. 3:2 für Deutschland. Banges Warten, die längsten sechs Minuten der Nachkriegsgeschichte. Zimmermann: "Die Ungarn erhalten einen Einwurf zugesprochen, der ist ausgeführt, kommt zu Kocsis – aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!" Womit Zimmermann Recht hatte: Deutschland – zumindest eine Auswahl seines größten Sportverbandes – hatte die WM gewonnen. "Aus!" war das Spiel jedoch nicht. Bücherregale kann man füllen mit Beschreibungen, die in diesem Schlusspfiff erst den Anfang sahen: die Legitimation der Demokratie, den Startschuss des Wirtschaftswunders, die mentale Gründung der Bundesrepublik. Die wahren Wurzeln des Landes liegen demnach unter jenem nassen Rasen im Berner Wankdorfstadion. Neunzig Minuten haben sie gebraucht, um auszutreiben.

August 2003. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat die Premierenfeier des Kinofilms Das Wunder von Bern von Sönke Wortmann besucht. Dreimal, so die Überlieferung, habe der Bundeskanzler vor Rührung weinen müssen. Für manchen war damit der letzte Nachweis erbracht, dass im Wankdorfstadion der emotionale Kern der Volksseele ruht – wenn schon der Kanzler Tränen vergießt! Seltsam unpathetisch wirkt dagegen die Reaktion des damaligen Kanzlers: Konrad Adenauer schickte ein sachliches Telegramm ohne patriotische Zwischentöne, in dem er der Mannschaft seine "herzlichsten Glückwünsche" aussprach. Pflichterfüllung. Weder der Kanzler noch andere hochrangige deutsche Politiker waren am 4. Juli 1954 beim Finale in der Schweiz anwesend.

Das Beispiel veranschaulicht, weshalb das geflügelte Wort von der Geburtsstunde der Bonner Republik auf dem Rasen von Bern angezweifelt werden darf. Die zweifellos außergewöhnliche Begeisterung, die der Titelgewinn für kurze Zeit in der Bevölkerung auslöste, wird heute selten auf die Dramaturgie des Endspiels zurückgeführt. Dabei konnte in keinem anderen Finale der WM-Geschichte ein Außenseiter einen 0:2-Rückstand noch drehen. Stattdessen wird von den kollektiven Jubelarien automatisch auf den Ausdruck eines neuen Nationalgefühls geschlossen, obwohl dieser Zusammenhang keineswegs hinreichend belegt ist. So existieren aus den fünfziger Jahren kaum Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass die Euphorie, die sich in Helmut Rahns Schuss zum 3:2 kristallisierte, in den Alltag verlängert wurde und der Nation ein neues Selbstbewusstsein vermittelte. Auch ein Blick in die Presseberichterstattung der damaligen Zeit fördert Erstaunliches zu Tage. "Ein großer Sieg, ein großer Tag, aber nur ein Spiel", titelte die Süddeutsche Zeitung. Die Frankfurter Allgemeine entschloss sich, auf der Aufmachersseite des Sportteils den Rennfahrer Manuel Fangio abzubilden, der für Mercedes-Benz den Grand Prix in Reims gewonnen hatte. Daneben war ein Bericht über das Finale in Bern zu lesen – ohne Foto. Im Gegensatz zum deutschen Fußball konnten die Silberpfeile eine erfolgreiche Vorkriegsgeschichte vorweisen. Die Formulierung "Wir sind wieder wer" passte besser auf die Autorennstrecke als ins Fußballstadion. Nur ein einziges Mal, am Tag nach dem Endspiel, schaffte es die WM 1954 auf die Titelseiten der Tageszeitungen. Zwei Tage später war das Thema wieder vom Tisch. Die Menschen hatten andere Sorgen.

Der Regierung Adenauer war das recht. Ihr Ziel war es, rasch in die internationale Staatengemeinschaft zurückzukehren. Während Herbergers Elf sich anschickte, die Weltherrschaft auf dem Rasen zu übernehmen, verhandelte Adenauer um die Aufnahme in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Ausländische Beobachter sollten daher nicht mit dem Eindruck eines erstarkten Deutschlands erschreckt werden. Nationale Ekstase war unter allen Umständen zu vermeiden.

Umso erstaunlicher, dass Schröder 49 Jahre später beim Anblick des Linkschusses von Rahn weinen musste – ein schöner Beleg für die Existenz einer nationalen Gefühlskultur in Deutschland. Die neue Emotionalität geht mit der anhaltenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise des Landes einher und äußert sich durch ein Rückbesinnen auf Tradition, eine Suche nach Helden, den Hunger nach Geschichte. Nur in diesem Kontext ist die Konjunktur des Wunders von Bern seit Mitte der Neunziger Jahre zu verstehen.

Dass der Sieg von Bern seine staatstragende Bedeutung erst in den letzten Jahren entfaltete, ist nicht verwunderlich. Gründungsmythen werden erst wirksam, wenn sie sich auf eine Zeit berufen, die so weit zurückliegt, dass die Erzählung nicht mehr real nachvollziehbar ist. Der Titelgewinn von 1954 gewann genau in der Phase an Relevanz, in der die Erinnerung durch Geschichte ersetzt wurde. Waren 1994 von der Berner Elf bis auf drei noch alle am Leben, so waren zehn Jahre später bis auf drei alle tot. Helmut Rahn starb am 14. August 2003 – wenige Tage vor dem Kinostart des Wortmann-Films.

Der 4. Juli 1954 ist weniger Datum der mentalen Gründung der Bundesrepublik als Startschuss für die Popularität des Fußballsports in Deutschland – über Klassen-, Alters- und Geschlechtergrenzen hinweg. Den vielleicht eindrücklichsten Beleg dieser Tatsache hat die Süddeutsche Zeitung 1954 überliefert: "Unsere hübsche Mama zum Beispiel, die neulich noch sagte, Fußball sei ein Spiel, das von sieben Männern gespielt wird, die nach einem Korb springen, diese gleiche Mama sitzt jetzt auf der anderen Seite des Radios, strickt, lässt zwei Maschen fallen und murmelt: Wenn der Rahn doch nur abgeben würde!"

Illustrationen: Alexandra Rusitschka