Am Flughafen von Dallas konnte Janice Seidel noch lachen: Wie in einem Film stand dort ein sehr dickes amerikanisches Paar mit einer kleinen Tochter, die ganz in Pink gekleidet war, und begrüßte die 15-Jährige Austauschschülerin aus Hamburg. Doch kaum in ihrem neuen Zuhause angekommen, wurde es ernst: Janice hauste in einem winzigen Zimmer, der Kühlschrank war immer leer und den Boden im Wohnzimmer konnte sie kaum erkennen, weil zu viel Müll darauf herumlag. Als sie einmal vor lauter Hunger irgendein Müsli in die einzig saubere Schüssel schüttete, waren ihre Gasteltern entsetzt: Die Müslipackung war sieben Jahre alt und besaß Sammlerwert.

 »Es war so schrecklich, weil ich mich dort nicht heimisch fühlen konnte«, erinnert sich Janice an die ersten Wochen ihres Gastaufenthaltes. Anfangs ertrug sie ihren Albtraum aus purer Dankbarkeit dafür, dass die Gastfamilie sie überhaupt aufgenommen hatte. Aber als sie zufällig eine E-Mail las, in der sich ihre Gasteltern bei der Regionalbetreuerin der Austauschorganisation Education First (EF) über sie beschwerten, weil sie aus Eifersucht den Kopf ihrer Tochter aus allen Fotos herausgeschnitten hätte – da war es genug. Weil ihr die Betreuerin nicht helfen wollte, suchte sich Janice einfach selbst neue Gasteltern – und landete schließlich bei einer netten, aber strengen Familie, bei der sie sieben Mal die Woche in die Kirche gehen musste und keine Partys besuchen durfte. 
 

Familien aus Asien zahlen mehr und haben bessere Chancen 

Schmutzige Wohnungen, altes Müsli, jeden Tag beten, nie feiern – viele Schüler würden all das heutzutage sogar in Kauf nehmen, wenn sie überhaupt einen Platz als Austauschschüler in den USA bekämen. Denn das wird immer schwieriger. Auch wenn Deutschland im Schuljahr 2008/2009 mit etwa 8200 Jugendlichen das größte Kontingent der knapp 30000 ausländischen Gastschüler in die USA schickt. »Noch bis vor zwei Jahren standen unzählige Plätze in den USA zur Verfügung«, sagt Sylvia Schill, die den Ratgeber »Ein Schuljahr in den USA« geschrieben hat und die Infoseite www.schueleraustausch.de betreibt. Jetzt aber müssten immer mehr Jugendliche zu Hause bleiben: Etwa 400 Schüler konnten im vergangenen Jahr erst auf den letzten Drücker oder gar nicht vermittelt werden, sagt auch Verbraucherschützerin Barbara Engler von der Aktion Bildungsinformation in Stuttgart. 2006 verschärfte das amerikanische Außenministerium die Regeln für den Schüleraustausch. Seitdem muss jeder ausländische Schüler zum 31.August eine Gastfamilie und eine Gastschule für das nächste Jahr haben. Früher konnten die Jugendlichen auch danach noch in die USA reisen, um vor Ort eine Gastfamilie zu suchen, aber seit der Gesetzesänderung bekommen Schüler ohne feste Familie gar kein Visum mehr. »Das bringt die US- Organisationen in eine starke Position«, sagt Verbraucherschützerin Engler, weil sie die begehrten Visum-Formulare an den Meistbietenden verkaufen könnten. Und die kommen immer häufiger aus Asien. In Korea oder Japan steigt das Interesse bei den Eltern, ihre Kinder für ein Jahr auf eine amerikanische Highschool zu schicken. Und dafür zahlen sie gern mehr als deutsche Eltern. 

Die härteren Austauschregeln wirken sich auch auf die amerikanischen Gastfamilien aus: Jedes Familienmitglied wird polizeilich überprüft. Ist jemand vorbestraft, fällt die Familie durch. Damit reagierte das Ministerium auf mehrere Fälle, in denen Austauschschülerinnen von ihren Gastvätern sexuell missbraucht wurden. »Diese Checks sind richtig, aber steigern nicht gerade die Bereitschaft von potenziellen Gastfamilien. Wer will schon auf Herz und Nieren überprüft werden?«, sagt Verbraucherschützerin Engler. Da also der Aufwand, die Schüler unterzubringen, immer größer wird, verlangen die US-Organisationen von ihren deutschen Partnern immer höhere Preise, was die wiederum an die Eltern der Austauschschüler weitergeben. »Für das Schuljahr 2009/2010 wird man durchschnittlich 7500 Euro zahlen müssen«, prognostiziert Sylvia Schill. Heute sind es ungefähr 6500 Euro, in beiden Fällen kommen noch 300 Euro Taschengeld pro Monat hinzu. 

Der Austausch ist für beide Seiten kein billiges Vergnügen. Daher leuchten die amerikanischen Behörden auch den finanziellen Hintergrund der Gastfamilie aus, schließlich muss sie sich einen Gastschüler für zehn Monate leisten können. Das kann schnell 4000 Dollar kosten, zumal die Familie im Gegensatz zu Gasteltern in Kanada oder Neuseeland kein Geld von den Organisationen bekommen. »Die Idee ist ja nicht, durch einen Gastschüler Geld zu verdienen, sondern ihm die amerikanische Kultur nahezubringen«, erklärt Autorin Schill. Neben der Gesetzesverschärfung schreckt auch die wirtschaftliche Lage amerikanische Familien zunehmend ab. »Wegen der Immobilienkrise und des hohen Ölpreises überlegen es sich viele dreimal, einen Austauschschüler aufzunehmen«, sagt John Hishmeh, Geschäftsführer des »Council on Standards for International Educational Travel«. Die amerikanische Kontrollorganisation überprüft die Qualität der hundert amerikanischen Austauschorganisationen und empfiehlt auf einer Liste 70 von ihnen. Weil jedes Jahr immer mehr ausländische Schüler aus verschiedensten Ländern in die USA wollen, gibt es um die Plätze einen regelrechten Wettbewerb: »Jede amerikanische Austauschorganisation schickt ihre freiwilligen Mitarbeiter in alle Teile des Landes, wo sie mit der Konkurrenz um dieselben Gastfamilien und Gastschulen kämpfen«, sagt Hishmeh. Und je weniger Plätze zur Verfügung stehen, desto härter wird das Auswahlverfahren der deutschen Austauschorganisationen werden. Schon jetzt fielen bis zu 20 Prozent der Bewerber bei den Auswahlgesprächen der Anbieter durch, sagt Barbara Engler. Die Zahl dürfte noch steigen. Schüler, die einen der begehrten Plätze in einer amerikanischen Gastfamilie ergattern, dürfen sich hingegen freuen: Die Gefahr, wie einst Janice Seidel ein Horrorjahr auf einer Müllkippe verbringen zu müssen, ist durch die strengen Auflagen für die Gastfamilien gesunken. Gerade Education First stand jahrelang massiv in der Kritik. Projektleiter Selbach gesteht ein, dass gerade die lokalen Betreuer der Organisation in den USA nicht oder zu spät eingegriffen hätten, wenn sich deutsche Jugendliche über die Gastfamilien beschwerten. Mittlerweile scheint es, als würden nicht nur die Schüler dazulernen, sondern auch die Organisationen. So gesehen funktioniert der Austausch also immer besser.

»ICH DURFTE MEINEN FREUND NICHT KÜSSEN!« 
Drei Austauschschüler erzählen 


Marie Möller, 19, war 2005/2006 mit EF in Springfield/Colorado. »Mein Jahr in den USA war ein ständiges Auf und Ab: Ich komme an und lande als Vegetarierin auf einer Rinderfarm! Alle anderen um mich herum haben nur Fleisch gegessen, da blieben mir nur Kartoffeln und andere Beilagen. Ich habe mich schon gefragt, ob die Austauschorganisation überhaupt darauf achtet, dass Schüler und Gastfamilie zusammenpassen. Aber mit der Zeit habe ich mich gut eingelebt. Ziegen habe ich selbst aufgezogen und Kühe gefüttert. Ich wurde richtig naturverbunden und war glücklich, den ganzen Tag ausreiten zu können. Allerdings fiel es mir unheimlich schwer, mich auf all die Regeln einzustellen. Man stelle sich vor: Ich durfte meinen Freund in der Schule weder umarmen noch küssen! Ich hab es trotzdem gemacht – und musste jedes Mal 45 Minuten nachsitzen.«
 

Rowena Singhoff, 21, war 2004/2005 mit EF in Osage City/Kansas 


»Als ich im Juni 2004 wusste, dass ich nach Kansas kommen würde, hatte ich sofort E-Mail- Kontakt mit meiner Gastoma. Die war 60 und hatte als Tagesmutter von 7 bis 16 Uhr acht kleine Kinder im Haus. Das hat mich aber nie gestört. Jeden Tag kamen ihr Sohn mit seinen vier Kindern und ihre Tochter mit ihrem Kind vorbei und aßen mit uns. Ich mochte meine große Familie sehr. Auch heute noch telefoniere ich zweimal im Monat mit ihnen und schreibe E-Mails. Richtigen Streit hatten wir nie, manchmal war ich ein wenig beleidigt, wenn ich nicht bis Mitternacht wegbleiben durfte. Da meine Gastfamilie riesige Bush-Fans waren, habe ich mit ihnen über Politik nie gesprochen. Einmal ist mir rausgerutscht, dass ich Homosexualität überhaupt nicht schlimm finde. Das konnten sie gar nicht verstehen. Solche Themen habe ich dann eher vermieden, weil wir auch schon auf dem Vorbereitungstreffen der Austauschorganisation lernten: Das Land tickt anders, deshalb muss man sich anpassen. Denn niemand von uns kann die Einstellung der Leute ändern. Mit meinen Freunden konnte ich dagegen über alles offen reden: Todesstrafe, Sex vor der Ehe und Abtreibung. 
 

Max Gürttner, 17, war mit American Field Service 2007/2008 in Bend, Oregon 


»An der Highschool hatte ich unglaublich viele Möglichkeiten, Sport zu machen: Fußball, Skifahren, Leichtathletik. Mein schönstes Erlebnis waren die Leichtathletik-Finalläufe bei den Staatsmeisterschaften von Oregon: Da läuft man dann auf der besten Tartanbahn der Welt – und 15.000 Zuschauer peitschen dich nach vorne. So etwas ist in Deutschland unvorstellbar. Meine Gasteltern und ihre drei Kinder waren immer dabei. Egal ob ich im Finale lief oder der Kleinste ein Baseballturnier hatte – immer haben sie uns angefeuert. So etwas kannte ich nicht.«