Professor Nassehi, welche Rolle spielt Zeit in der Politik?

Da gibt es zwei Dimensionen: Zum einen ist Politik vom Vierjahresrhythmus der Legislaturperioden geprägt. In Demokratien ist das der Zeitraum, in dem man an der Umsetzung von politischen Zielen arbeiten kann. Zum anderen steckt die Politik in einem ständigen Konflikt. Die politische Öffentlichkeit erwartet schnelle Ergebnisse. Sie will, dass sich die Dinge sofort ändern. Wenn zum Beispiel ein neues Steuergesetz erlassen wird, wundern sich die Wähler, wenn es nicht bereits nach drei Monaten auf die Konjunktur durchschlägt. Tatsächlich dauert es aber oft sehr lange, bis die Auswirkungen politischer Entscheidungen sichtbar werden. 

Warum dauert eine Legislaturperiode ausgerechnet vier Jahre und nicht zwei oder zehn? 

Vier Jahre sind überschaubar und zugleich lang genug, um etwas zu gestalten. Bei einem kürzeren Zeitraum wäre der Handlungsspielraum zu gering. Es ist ja nicht so, dass die gesamte Länge einer Legislaturperiode für politisches Handeln zur Verfügung steht. 

Sondern?

Man wird gewählt, braucht ein Jahr, bis man drin ist. Dann hat man zwei Jahre, etwas zu tun, und im letzten Jahr bereitet man sich auf den nächsten Wahlkampf vor. In Deutschland haben wir zusätzlich die Situation, dass der politische Handlungsspielraum durch den Föderalismus und die zeitlich versetzten Wahlen in den Bundesländern eingeschränkt ist. Die Bundespolitik muss immer darauf achten, wann die nächsten Landtagswahlen sind und wann eine möglicherweise unpopuläre Entscheidung getroffen werden kann, ohne die Wähler zu vergraulen. 

Also würde sich der Handlungsspielraum der Politik deutlich verlängern, wenn alle Wahlen am selben Tag stattfänden?

Bestimmte zeitliche Restriktionen würden verschwinden, aber dafür gäbe es andere Probleme. Möglicherweise könnten die Wähler nicht mehr unterscheiden, wofür sie ihr Kreuz machen, weil sich landes- und bundespolitische Themen vermischen. Es ist ja heute schon so, dass bundespolitische Themen bei Langtagswahlen eine immer größere Rolle spielen. Diese Tendenz würde sich bei gleichzeitigen Wahlen noch verstärken. Der Sinn des Föderalismus würde konterkariert.

Ist Politik heute überhaupt noch in der Lage, langfristig zu gestalten, oder kann sie nur auf Entwicklungen reagieren?

Staatliche Politik hat zwei Probleme. Zum einen bewegt sie sich in einem Umfeld, das dynamischer ist als sie selbst, was hauptsächlich ökonomische Ursachen hat: Die Weltwirtschaft agiert viel schneller als die nationale Politik. Zum anderen ist der Geltungsraum ihrer Entscheidungen auf den nationalen Rahmen begrenzt, während die wechselseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Politik über den nationalen Rahmen hinausgeht.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle?

Ja und nein. Manche Kommentatoren meinen zwar, dass man die Probleme lösen kann, indem man die Grenzen des Nationalstaats im Kopf überschreitet. Aber auch wenn man zum Beispiel europaweit gültige Steuersätze festlegen, eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik oder einheitliche Sozialstandards einführen möchte, muss man dafür auch auf der Ebene der Nationalstaaten Zustimmung finden. Alles, was an transnationaler Politik läuft, muss sich auch "zu Hause" bewähren. So wird man die Wähler in einem vergleichsweise reichen Land zum Beispiel kaum davon überzeugen können, sich den Lebensstandards der osteuropäischen Länder anzupassen. Das eigentliche Problem ist die Lösung dieses Dilemmas.

Wie unterscheidet sich das Zeitmaß der Politik von dem der Wirtschaft?

Die beiden Systeme unterscheiden sich radikal voneinander. In der Wirtschaft herrscht eine Kultur der Geschwindigkeit vor, in der Politik eine Kultur der Langsamkeit. Die Wirtschaft muss schnell und flexibel auf Veränderungen reagieren, die Parameter ändern sich ständig. Mit Schnelligkeit löst man hier Probleme. 

Und in der Politik?

Da ist es genau umgekehrt. Das Prinzip von staatlicher Demokratie beruht darauf, Langsamkeit in Entscheidungsprozesse einzubauen. Die Politik muss bestimmten Verfahren genügen und sich an klare Regeln halten. Demokratie heißt Partizipation und Partizipation braucht Zeit. Überzeugungszeit. Insofern ist die Langsamkeit in der Politik ein Faktor, auf den man nicht verzichten kann. 

Dennoch wird diese Langsamkeit oft als Stillstand wahrgenommen. 

Wir haben uns angewöhnt, an die Ökonomisierung der Politik zu glauben. Ich halte das für dummes Zeug. Leute, die Politik effizienter machen wollen, sehen oft nur die sachliche Dimension einer Problematik und begreifen nicht, dass es in der Politik nicht wie in einer Konzernzentrale darum geht, schnelle Entscheidungen zu treffen. Politik folgt einer anderen Logik als Wirtschaft. Eine richtige Entscheidung ist nichts wert, wenn es nicht gelingt, sie der Öffentlichkeit plausibel zu machen und als legitim darzustellen. Eine Art von politischer und ökonomischer Klugheit würde darin bestehen, wenn Akteure, die im Spannungsfeld der beiden Systeme miteinander zu tun haben, versuchen, die zeitlichen Strukturen des anderen zu verstehen.

Im Augenblick hat man eher den Eindruck, dass Politiker sich wie Manager benehmen und versuchen, sich an das Tempo der Wirtschaft anzupassen.

Ja, wir leben in einer Gesellschaft, in der Schnelligkeit und Dynamik positiv besetzt sind. Nicht der Zauderer wird bewundert, sondern der Entscheider, der rasch und entschlossen handelt. Da ökonomische Werte so hoch im Kurs stehen, passt sich die Politik an die Effizienzkriterien der Wirtschaft an. Dabei handelt es sich allerdings mehr um den Versuch, sich in der Öffentlichkeit als effizient und entscheidungsfreudig darzustellen. Man macht keine bessere Politik, wenn man die Schlagzahl der Aktivität erhöht und meinetwegen mehr und schneller Gesetze erlässt. Politik muss sich so darstellen, dass Wähler an den Entscheidungen beteiligt sind. Politische Entscheidungen müssen von denen, die sie demokratisch ermöglichen, auch gewollt sein. Je schneller die Politik agiert, desto weniger ist ein solches Einvernehmen herzustellen. Hinzu kommt, dass politische Entscheidungen immer auch Verlierer oder Unterlegene produzieren: Leute, die mehr Steuern zahlen müssen oder schlechtere Arbeitsmöglichkeiten haben. Das ganze Programm der Demokratie kann und muss dazu dienen, die Verlierer mitzunehmen. Deshalb ist das demokratische Prinzip, Regierung und Opposition ins System aufzunehmen und damit Langsamkeit einzubauen, alternativlos und unübertroffen.

Trotzdem misstrauen viele Menschen den Entscheidungen der Politik. 

Das Dilemma der Politik ist, dass sie so tun muss, als könnte sie steuern, was in zwei oder in zwanzig Jahren passieren wird. Deshalb hat sie ein strukturelles Glaubwürdigkeitsproblem. Die Zukunft lässt sich nämlich nicht antizipieren oder durch Gesetze eindeutig festlegen. Niemand weiß, wie der Arbeitsmarkt im Sommer 2008 aussieht. Der hängt von Faktoren ab, die nicht kontrolliert werden können. Die Zukunft ist eine Konstruktion. Politik muss sich eingestehen, dass sie nicht versprechen kann, dass die Dinge so laufen, wie es geplant ist. Dann wird sie auch glaubwürdig. Entscheidungen haben immer mit einem Nichtwissen über die Zukunft zu tun. Wenn man genau wüsste, was passieren wird, müsste man sich ja nicht entscheiden.

Sind Entscheidungen, für die man sich Zeit lässt, bessere Entscheidungen?

Das kann man so nicht sagen. Politik bewährt sich ja nicht nur durch die Qualität ihrer Entscheidungen, sondern auch dadurch, dass man nachvollziehen kann, wie diese Entscheidungen zustande kommen. Die Frage ist also eher: Will man demokratische Entscheidungen, die von der Mehrheit getragen werden, oder will man eine Expertenkultur, weil Experten bestimmte Zusammenhänge besser einschätzen können? Selbst wenn man stärker auf Experten setzen würde, gäbe es noch immer keine Alternative zur Langsamkeit der Demokratie, wenn man Entscheidungen an ein Kollektiv rückbinden will.

Wie lassen sich Effizienz und demokratische Legitimation miteinander verbinden? 

Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Man darf nicht so tun, als würde die Wirtschaft das Tempo einer Gesellschaft vorgeben und die Politik alles ausbremsen. Die Systeme sind voneinander abhängig. Auch die Wirtschaft profitiert von der Langsamkeit der Politik, denn sie braucht stabile Rahmenbedingungen, die sich nicht so schnell ändern wie Märkte. Und diese Rahmenbedingungen werden politisch vorgegeben. Ohne Vertragssicherheit zum Beispiel kann man sich keine funktionierende Wirtschaft vorstellen.

Die Verfechter der Effizienz argumentieren mit der Konkurrenz der Nationalstaaten: Wir müssen schneller und effizienter werden, damit Deutschland nicht den Anschluss an die anderen Länder verliert. 

Deutschland - und das gilt auch für die anderen europäischen Staaten - muss sich daran gewöhnen, dass es nicht das Tempo bestimmt, in dem die Welt tickt. Andererseits ist Deutschland ja auch keine wirtschaftliche Sahelzone. Wir vergleichen uns zurzeit ganz gerne mit Staaten in Südostasien. Dort kommt die Geschwindigkeit schon dadurch zustande, dass sie Entwicklungen durchlaufen, die Deutschland bereits in den Fünfzigerjahren hinter sich gebracht hat. Da ist Wachstum natürlich in ganz anderen Ausmaßen möglich, als das bei uns der Fall ist. Außerdem hat in Staaten wie China die demokratische Legitimation von politischen Entscheidungen einen anderen Stellenwert als bei uns. In einem autoritären Staat stellt die Langsamkeit der demokratischen Prozesse natürlich kein Hemmnis dar.

Eignet sich ein autoritärer Staat besser als Partner für die Wirtschaft als ein demokratischer? 

Das könnte man in vielen Feldern der Politik denken. In der Ökologie zum Beispiel. Viele Leute glauben ja, dass eine rigorose staatliche Lenkung unsere ökologischen Probleme lösen könnte. Sie vergessen dabei, dass sich politischer Totalitarismus und gesellschaftliche Dynamik ausschließen. Auch eine florierende Wirtschaft ist immer an Freizügigkeit gebunden und daran, dass die Menschen Vertrauen in die Zukunft haben und gerne dort leben, wo sie sind. Im 20. Jahrhundert haben wir gesehen, dass alle Diktaturen ökonomisch gescheitert sind. In unserem Land war der Nationalsozialismus ökonomisch nur als Kriegswirtschaft überlebensfähig und der kommunistische Wirtschaftsdirigismus hat letztlich die Langsamkeit des Politischen in die Wirtschaft eingepflanzt.