Thema – Russland

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Die Party ist vorbei

Während der WM hatten Vorkämpfer eines demokratischen und toleranten Russlands so viele Freiheiten wie lange nicht mehr. Doch seit die Welt nicht mehr so genau auf das Land schaut, wird der Ton dort wieder rau

Worum gehts?

- Nach der WM ist die Lage für Demokratieaktivisten in Russland wieder deutlich schlechter geworden.
- Nicht nur bekannte Oppositionelle wie Alexej Nawalny bekommen die neue Härte zu spüren, auch einfache Demonstranten. Es gibt viele Verhaftungen.

- Eine Menschenrechtsorganisationen organisiert den Aktivisten einen guten rechtlichen Beistand. .
- Ein Gemeinschaftsprojekt instruiert sie schon vor Demos für eine mögliche Verhaftung.

- Der Artikel knüpft an eine Reportage an, mit der wir auf fluter.de zur WM über das „Diversity House“ berichtet haben:

Reportage: „Die spielen nicht mit“

Der 20-jährige Sascha steht zum ersten Mal vor Gericht. Er hat weder etwas geklaut noch jemandem Gewalt angetan. Sascha ist lediglich auf die Straße gegangen. Zum Protestieren in Sankt Petersburg. Die Demo richtete sich offiziell gegen die geplante Rentenreform, die vorsieht, dass Männer künftig fünf Jahre, Frauen acht Jahre länger arbeiten müssen. Im Kern ging es den überwiegend jungen Demonstranten aber um die repressive Stimmung im Lande. Während der Weltmeisterschaft hatte sich das politische Klima in Russland einmal kurz aufgehellt. Doch danach ist es wieder düster geworden.

Sascha sitzt auf einer hölzernen Bank in einem Raum, der mehr nach Vorzimmer als nach Gerichtssaal aussieht und in dem gleich seine Anklageschrift verlesen werden soll. Wie ein Radikaler wirkt Sascha nicht. Er ist ein schüchterner, dürrer Typ mit Brille, der Meteorologie studiert.

„Die Demo wurde kurzfristig aufgrund eines angeblichen Wasserrohrschadens von den Behörden verboten“, erzählt er später. Die Organisatoren wollten sich das aber nicht gefallen lassen. So auch Sascha, der am Ende der Demo mit etwa 100 anderen Teilnehmern von der Polizei eingekreist und mitgenommen wurde. 48 Stunden lang wurde er festgehalten. „Es stört mich, wie die Demokratie in unserem Land untergeht.“

Insgesamt wurden allein in Sankt Petersburg an diesem Tag laut dem Bürgerrechtsportal OWD-Info bis zu 600 Menschen verhaftet, in ganz Russland etwa 1.200. „Am Anfang sind nur die auffälligsten Aktivisten mitgenommen worden, am Ende jeder, der noch da war“, sagt Sascha.

Es ist noch gar nicht lange her, da versuchte sich Russland als offener, toleranter WM-Austragungsort zu inszenieren. Da liefen Fußballfans unterschiedlichster Couleur und Gesinnung fröhlich die Fanmeilen entlang, und Aktivisten durften auf ihre Belange aufmerksam machen – in einem gewissen Rahmen. Mit einem sogenannten „Diversity House“, über das „fluter“ im Juni berichtete, richteten Aktivisten während der WM einen „Safe Space“ für Minderheiten ein. Das wurde toleriert.

 

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Sascha

Weil er für mehr Demokratie auf die Straße gegangen ist, wurde Sascha verhaftet und verurteilt. Wie ihm ergeht es in Russland Tausenden

Jetzt, wo die Kameras nicht mehr auf Russland gerichtet sind, nehmen die Repressionen wieder zu. Der Oppositionelle Alexej Nawalny wurde kürzlich nach einem 30-tägigen Arrest sofort nach seiner Entlassung wieder verhaftet – er hatte zu Demos gegen die Rentenreform aufgerufen. Für Diskussionen sorgt auch Pussy-Riot-Mitglied Pjotr Wersilow, der während des WM-Finales als Flitzer auf das Spielfeld gerannt war und kürzlich mit Vergiftungssymptomen in ein Krankenhaus eingeliefert wurde.

Seit die Medien der Welt nicht mehr so genau auf Russland blicken, nehmen die Repressionen wieder zu

Die neue alte Härte bekommen auch einfache Demonstranten wie Sascha zu spüren. Die Richterin liest in monotoner Stimme die Anklageschrift vor. Auf ihrem erhöhten Schreibtisch thront eine gusseiserne Justitia, Göttin der Gerechtigkeit, daneben steht die russische Nationalflagge. Saschas Verteidiger, Aleksandr Peredjuk, führt die Gegenrede: „Wenn die Bürger unter fadenscheinigen Gründen daran gehindert werden, demokratische Rechte wahrzunehmen, haben sie irgendwann das Recht auf eine Revolution.“ Peredjuk hat sich auf die Rechte von politischen Aktivisten spezialisiert, für seine Arbeit müssen Angeklagte nichts zahlen. Er bekommt seinen Lohn von der russischen Menschenrechtsorganisation Agora, die Aktivisten, Journalisten, Blogger und Künstler unterstützt und sich selbst durch Spenden und Fördergelder finanziert. Ziel von Agora ist es oft, solche Verfahren bis nach Straßburg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu tragen.

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Georgij

Georgij gehört zu dem Gemeinschaftsprojekt Open Space in St. Petersburg. Er instruiert Aktivisten, was bei einer möglichen Verhaftung zu tun ist – und da spricht er leider aus eigener Erfahrung

„Ich betreibe palliative Juristerei. Auch wenn die Richter in Russland nicht frei in ihren Entscheidungen sind und es daher in diesem Fall keinen Freispruch geben kann, macht meine Arbeit Sinn“, sagt Aleksandr Peredjuk in einer Verhandlungspause. „Wir können aufzeigen, wo das Recht gebeugt wird, und die Härte des Urteils abmildern.“ Er lacht und wiederholt die letzten an ihn gerichteten Worte der Richterin. „Gute Rede, der Herr.“

Wie erwartet kommt Sascha nicht straffrei davon. 40 Stunden soziale Arbeit muss er leisten. „Toll ist das nicht, aber ich lasse mich davon nicht abschrecken“, sagt er nach der Verhandlung. „Ich werde wieder demonstrieren gehen.“

Im Falle einer Verhaftung: sich nicht selbst belasten, nichts unterschreiben, nicht nervös werden!

Auch das Gemeinschaftsprojekt Open Space in Sankt Petersburg unterstützt politische Aktivisten, die verhaftet werden. Und instruiert sie schon vor den Demos, was im Fall der Fälle zu tun ist. Student Georgij (20) fasst es zusammen: sich nicht selbst belasten, nichts unterschreiben, nicht nervös werden. Georgij weiß, wovon er redet, er selbst wurde schon oft festgenommen. „Vor allem bei Protestzügen, die von Nawalny organisiert werden, gibt es juristische Probleme für die Teilnehmer“, erzählt er. Sein kunterbunter Pulli passt zur Regenbogenfahne, die im Raum hängt. Und zu seinem Einsatz für die russische LGBT-Community.

Seit über fünf Jahren gibt es den Open Space, dessen Miete über Crowdfunding finanziert wird. „Einmal wurden wir schon von Nationalisten bedroht, aber sonst ist hier alles gut gegangen“, sagt Georgij. Während der WM gab es keine negativen Vorfälle zu verzeichnen. Aber Georgij macht darauf aufmerksam, dass der Schein der Toleranz schon während der WM trog: Vor und während des Turniers wurden elementare Bürgerrechte eingeschränkt, vor allem die Versammlungsfreiheit im öffentlichen Raum.

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Olga und Gelb

Olga und Gleb haben während der WM beim Diversity House mitgewirkt. Was ihnen heute das aktivistische Leben schwer macht, ist die Willkür. Man wisse nie, wie weit man gehen dürfe, sagen sie

„Insgesamt lief es besser als erwartet“, meint dazu Gleb vom Diversity House. Mit seiner Mitstreiterin Olga sitzt er in einer kleinen Bar im Zentrum von Sankt Petersburg und zieht Bilanz: „Was in Russland weiterhin Angst verursacht, ist diese Willkür. Niemand weiß, wie weit er genau gehen darf. Die Grenze des Sag- und Machbaren ist absichtlich unscharf.“

„In Russland ist leider die Regierung radikal, nicht die Aktivisten“

Olga erklärt: „Das Turnier und die Vorträge im Diversity House sind störungsfrei abgelaufen, vielleicht aber auch nur, weil sich die Leute an das Versammlungsverbot gehalten haben. Aus Angst, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen.“ Dennoch habe es viel positive Aufmerksamkeit gegeben, vor allem für feministische Themen. Passend zum größten „Skandal“, der in der medialen Aufregung über russische Frauen bestand, die mit ausländischen Fußballfans angebandelt hätten. „Doch jetzt ist das Turnier vorbei, und das Regime fühlt sich wieder frei, repressiv und gewalttätig vorzugehen“, sagt Gleb. „In Russland ist leider die Regierung radikal, nicht die Aktivisten.“

Was bleibt also von der WM? Olga schätzt das so ein: „Ein positiver Effekt war, dass sich viele zivilgesellschaftliche Aktivisten wegen der WM vernetzt haben.“ Nicht so gut dagegen sei es gelungen, auch ausländische WM-Besucher anzusprechen. „Die meisten Gäste wollten nur Fußball schauen, auch die Journalisten“, sagt sie. Trotzdem gebe es jetzt Pläne, das Diversity House fortbestehen zu lassen. Um die Grenze des Sag- und Machbaren ein Stück weiter in die freiheitliche Richtung zu schieben.

Titelbild: REUTERS / Portraits: Eva Müller-Foell

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