Dem 29-jährigen Alexander Kabakov und dem 26-jährigen Artem Kukharenko ist gelungen, wovon die meisten Start-up-Gründer nur schüchtern träumen: ein viraler Medien-Coup. Vor zwei Monaten haben sie eine kleine Anwendung vorgestellt. Seitdem haben sich weltweit die großen Medien darauf gestürzt – der britische „Guardian“ hat berichtet, die „Washington Post“, Spiegel online und der Deutschlandfunk.

Digitaler Gesichtsverlust 1

Der Fotograf Igor Tsetkov hat die App FindFace getestet, mit der man Personen identifizieren kann: links die fotografierten Passanten in Moskau, rechts deren Bilder in den sozialen Netzwerken

Scannen wir uns nicht irgendwoher? Mit seiner Arbeit „Your Face Is Big Data“ zeigt der russische Fotograf Egor Tsetkov, dass unser Privatleben mit Apps wie FindFace für jeden offenliegt, der uns irgendwo auf der Straße, in der U-Bahn oder sonst irgendwo begegnet. Um das zu demonstrieren, hat Tsvetkov FindFace ein paar Tage lang in Moskau ausprobiert. Die Abbildungen zeigen links die fotografierte Person und rechts die Bilder, die Tsetkov in deren Profilen in den sozialen Netzwerken gefunden hat

Womit die beiden Moskauer für Furore gesorgt haben: Auf Basis eines hochgeladenen Fotos, das vielleicht gerade eben auf der Straße geschossen wurde, durchsucht die App FindFace die Bilderdatenbank von Vkontakte, dem russischen Facebook-Pendant, das nach Eigenangaben europaweit mehr als 100 Millionen aktive Nutzer hat und mehr als 200 Millionen Profile. Im Anschluss werden die wahrscheinlichsten Treffer präsentiert.

Die dahinterstehende Gesichtserkennungstechnologie namens FaceN ist das eigentliche Meisterstück von Kabakov und Kukharenko und ermöglicht es dem Start-up der beiden jungen Männer, in der Liga der großen Silicon-Valley-Unternehmen mitzuspielen. In einem Bilderkennungswettbewerb an der Uni Washington kam sie auf eine durchschnittliche Trefferquote von über 70 Prozent und schlug in einigen Teildisziplinen sogar ein ähnliches Projekt von Google.

Die Idee hinter FindFace war, einen neuen Typus von Dating-Dienst zu bauen, erzählt Masha Drokova, Sprecherin von NTechLab, dem Start-up der beiden Moskauer. Eigentlich sei das aber nur die erste denkbare Anwendung. Geplant sei, eine Plattform zu launchen, über die Unternehmen die Gesichtserkennungssoftware für ihre jeweiligen Zwecke nutzen können, solange diese nicht „unangemessen“ seien.

Für Dating, Ermittlungen und Werbung überall

Im Bereich Sicherheit wären etwa Identitäts-Checks bei elektronischen Türen denkbar oder Echtzeit-Polizeiermittlungen auf Basis von Bildern aus Überwachungskameras. Der Handel könnte individualisierte Werbung in Läden ausspielen und wiederkehrende Kunden identifizieren, Banken könnten ihre Modelle zur Bestimmung der Kreditwürdigkeit erweitern. Auf die Frage, inwiefern eine Ausweitung von FindFace auf soziale Netzwerke wie Facebook oder Google+ geplant ist, antwortet Drokova: „Wir arbeiten an Integrationen in alle verbreiteten Dienste.“

Wird es also bald Normalität, dass wir ständig digital durchleuchtet werden können, auch wenn wir uns offline durch die Welt bewegen? Wird die Realität endgültig zu einem Szenario aus permanenter Überwachung, wie es beispielsweise in dem Buchklassiker „1984“ von George Orwell beschrieben wurde?

Was FindFace da macht, sei nichts grundlegend Neues, meint Alexander Sander vom Verein Digitale Gesellschaft, der sich für Bürgerrechte im Netz einsetzt: „Projekte zur Gesichtserkennung über soziale Netzwerke gibt es schon länger. Es ist höchstens eine neue Entwicklung, dass die Technologie auch so einfach für Nutzer zugänglich ist.“ Die Frage sei nicht gewesen, ob, sondern wann ein solcher Dienst auf den Markt kommt. Sonderlich viel vom FindFace-Modell hält er allerdings nicht: „Ich würde es nicht nutzen und das auch niemandem empfehlen, da es extrem in die Privatsphäre anderer Leute eingreift. Es treibt einen fast dazu, die Persönlichkeitsrechte anderer zu verletzen.“

„Nichts grundlegend Neues“

Nach Meinung Sanders sei es nur eine Frage der Zeit, bis FindFace auch auf Facebook nutzbar ist. Und er glaubt auch, dass die großen Silicon-Valley-Konzerne nicht untätig sein werden. Facebook scheiterte in Europa zunächst mit seiner App Moments, die Fotos mit einem Gesichtserkennungsalgorithmus scannte und diese dann mit den Nutzerprofilen auf Facebook abglich – was hierzulande nicht mit der Gesetzgebung zum Schutz der Privatsphäre vereinbar ist. Nach Protesten von Datenschützern schwächte das US-amerikanische VKontakte-Pendant die Gesichtserkennungsfunktion in der europäischen Moments-Version dann ab. Spannend werde es auch, wenn Google erneut versucht, seine intelligente Datenbrille Google Glass, deren Verkauf das Unternehmen 2015 eingestellt hatte, neu auf den Markt zu bringen, prophezeit Sander. Und das werden sie in einer weiterentwickelten Variante wohl versuchen: „Wenn die so viel Geld in eine Technologie investieren, werden sie die auch zur Anwendung bringen wollen.“

Und was sagt die Firma hinter FindFace zu den Datenschutz-Bedenken? Die Erklärung ähnelt der Argumentation vieler Gründer und Investoren aus dem Silicon Valley. Früher hätten Leute auch das Internet, soziale Netzwerke und sogar Kreditkarten kritisch beäugt, meint NTechLab-Sprecherin Masha Drokova. Es gehe im Kern um den alten Streit zwischen Traditionen und Fortschritt, und sie fügt hinzu: „Niemand kann den Fortschritt aufhalten oder auch nur verlangsamen, wenn die Zeit einer neuen Technologie gekommen ist.“ Es gehe im Kern um den alten Streit zwischen Traditionen und Fortschritt.

Bilder: Egor Tsvetkov