Alois Freundl ist froh, dass sie endlich raus sind. Jahrelang bretterten die Laster vor seiner Haustür vorbei, mitten durch den Ortskern des schönen Ebersberg in Oberbayern. Jahrelang hat Freundl, Bäckermeister im Ruhestand, mit seiner Bürgerinitiative dagegen demonstriert – gegen den Durchgangsverkehr und für eine neue Ortsumgehungsstraße. Kommunalpolitiker und Behörden haben sie bearbeitet, Plakate geklebt, die von Gegnern abgerissen wurden. Sie haben einen Laster bemalt mit einem Slogan für das Bauprojekt und durch die Straßen fahren lassen. „Eine lange Geschichte war das“, sagt Freundl, satt und bajuwarisch, ein richtiges „Kasperltheater“. „Sogar Freundschaften sind daran zerbrochen.“ Aber nun ist alles gut: Sechs Kilometer Asphalt führen den Verkehr südlich am Ort vorbei, im Dezember wurde die Straße freigegeben. 24,7 Millionen Euro hat der Bau verschlungen, 10 Millionen mehr als ursprünglich veranschlagt. Diesen Erfolg, da ist sich Freundl sicher, hätten die Bürger nie errungen ohne die Hilfe von Herrn Wild. Herr Wild von der GSV. Freundl jubelt: „Der war spitze.“ Der habe ihnen erklärt, welche Ämter zuständig sind. Der habe tolle Kontakte gehabt zu den Behörden und auch Briefe für die Bürgerinitiative aufgesetzt, richtig professionell, mit Planfeststellungsverfahren und all den anderen Verwaltungsdingen kennen sich die verkehrsgeplagten Bürger schließlich nicht so aus. Und Geld gab es wohl ebenfalls ein wenig. „Aber da red ma ned drüber.“

Klaus Wild ist der gute Geist vieler Bürgerinitiativen, die sich dem Straßenbau verschrieben haben. Er ist Vorstandsmitglied und bayrischer Landesbeauftragter der Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung (GSV). In ihrer Mitgliederzeitschrift berichtet die GSV von den Erfolgen im Kampf für mehr Asphalt: „Planung für Ortsumgehung Uslar kann beginnen“, heißt es darin. Oder: „Geschafft! Ortsumgehung Mehle im Zuge der B1 freigegeben.“ Ein Bild zeigt Wild neben Bundesverkehrsminister Ramsauer. Auch Artikel über den Artenreichtum an Autobahnböschungen finden sich in dem Heft, dazu Werbeanzeigen für „Verkehrsflächen aus Beton“. Rund 150 Bürgerinitiativen deutschlandweit unterstützt Wilds Gesellschaft. Manchmal gibt sie den Anstoß, damit überhaupt erst welche entstehen: „Wenn ein Bürgermeister, der eine Umgehungsstraße will, zu uns kommt und sagt, dass seine Briefe nichts fruchten, dann raten wir, dass es vielleicht zweckmäßiger ist, dass der Bürgerwille direkt zum Ausdruck kommt“, sagt Wild. In einer seltsamen Mission ist Wild da unterwegs: Mehr Umweltschutz durch mehr Straßen. Man muss schon viel Fantasie aufbringen, um diesen Zusammenhang nachvollziehen zu können. Man kann sich aber auch einfach ansehen, wer hinter den Aktivitäten der GSV steht: der Deutsche Asphaltverband zum Beispiel, die Betonmarketing Süd GmbH oder das Straßenbauunternehmen Strabag. Sie alle verdienen am erfolgreich zum Ausdruck gebrachten Bürgerwillen und neuen, teuren Verkehrswegen.

Also bitte: Die Böschung an der Autobahn bietet vielen Arten einen Lebensraum

Die GSV ist das beste Beispiel für das, was Kritiker als Graswurzel- Lobbyismus bezeichnen oder auch als Astroturfing, abgeleitet von der bekannten US-Kunstrasen- Marke Astroturf. Industrieunternehmen und Verbände versuchen den unverdächtigen Bürgerprotest für sich zu vereinnahmen. Der Vertrauensvorschuss, den zivilgesellschaftliches Engagement genießt, wird genutzt, um die Geschäftsziele voranzutreiben. „In der Lobbyszene gibt es einen klaren Trend dazu, Mitarbeiter, Kunden oder Bürger für seine Interessen einzusetzen“, sagt Ulrich Müller, geschäftsführender Vorstand der Initiative LobbyControl aus Köln. Der Wutbürger wird Werbeträger für die Industrie. Tatsächlich ist auch der Verband der Automobilindustrie (VDA) Mitglied im Förderverein der GSV und unterstützt so die Bürgerinitiativen für Straßenbau. Vor allem dort, wo wirklicher Protest ausbleibt, bietet sich der künstliche an. Zum Beispiel für Atomkraft. Vor zwei Jahren kam heraus, dass der Stromerzeuger RWE seine Auszubildenden zur Teilnahme an einer Pro-Atom-Demonstration vor dem Kernkraftwerk Biblis ermutigte – sie bekamen einen Tag arbeitsfrei, wenn sie hinfuhren. Und im Juli demonstrierten Hunderte Menschen vor dem Kanzleramt in Berlin gegen den Atomausstieg der Bundesregierung. Organisiert wurde der Protest von der Kerntechnischen Gesellschaft, einer „gemeinnützigen Personenvereinigung“, die unter derselben Berliner Anschrift residiert wie der Verein Deutsches Atomforum, dessen Mitglieder vorwiegend der Atomwirtschaft angehören. So entsteht der Eindruck, dass der Atomausstieg in der Bevölkerung umstrittener sei, als er in Wahrheit ist. Verbindungen zur Kerntechnischen Gesellschaft hat auch der Verein Bürger für Technik, eine Initiative, die fleißig Leserbriefe schreibt und sich nach eigener Darstellung für naturwissenschaftliche und technische Bildung in Deutschland einsetzt. Und nebenbei eben für die Atomkraft.

Fingierte Leserbriefe, Beiträge in Internetforen – es gibt viele Möglichkeiten, Wut vorzutäuschen

Ludwig Lindner, der Vorsitzende der Bürger für Technik, fungiert als stellvertretender Sprecher der Fachgruppe „Nutzen der Kerntechnik“ in der Kerntechnischen Gesellschaft. Dass Bürger für Technik eine Tarnorganisation der Atomlobby sei, weist Lindner von sich. Blasphemische Anschuldigungen seien das, schimpft er durchs Telefon. In einem internen Dokument, aus dem die Wochenzeitung „Die Zeit“ vor einigen Jahren zitierte, liest sich das jedoch ganz anders: Bürger für Technik sei aus der Kerntechnischen Gesellschaft hervorgegangen, um den „Wirkungskreis auch neutral zu erweitern“. Spricht man Lindner darauf an, heißt es nur: kein Kommentar. Auch beim derzeit umstrittensten Bauprojekt Deutschlands in der Stuttgarter Innenstadt gibt es den Verdacht auf gesteuerte Bürgeraufstände. Ein Bündnis namens „Wir sind Stuttgart 21“ verteilt Buttons und Aufkleber und organisiert regelmäßig Laufaktionen, um für den Bahnhofsneubau zu werben. Vorsitzender ist Christian List, der eine PR-Agentur betreibt, die unter anderem die Deutsche Bahn als Kunden nennt. Ein Zufall? Die Homepage ist jedenfalls nicht auf List privat, sondern auf den Namen seiner Agentur registriert. Hinzu kommt, dass die Bahn sich bereits einen gewissen Ruf erarbeitet hat, was Astroturfing anbetrifft: 2009 deckte LobbyControl auf, dass der Konzern eine Berliner Agentur indirekt damit beauftragt hatte, mit fingierten Leserbriefen und Beiträgen in Internetforen für ein gutes Image zu sorgen. Ein klarer Fall.

Meistens ist jedoch nur schwer zu sagen, was noch eine Graswurzelbewegung ist und wo der Kunstrasen anfängt. Gibt es einen ein- deutigen Auftrag oder nur zufällige Überschneidungen? Wo hören berufliche Verbindungen auf, wo fängt ehrenamtliches Engagement an? Wann wird eine Bürgerinitiative, deren Ziele sich zufällig mit den Geschäftsinteressen decken, bloß unterstützt und wann instrumentalisiert? All diese Fragen im Ungefähren zu lassen gehört beim Astroturfing dazu. Verschleierung ist Teil der Methode. Und meisterhaft darin sind die Asphaltfans von der GSV. Wer sich auf der Internetseite über die GSV informieren will, erfährt: wenig. Kaum Bilder, kaum Text und bestechende Unprofessionalität im Design. Die Mitglieder seien „überwiegend Landräte, Oberbürgermeister, Bürgermeister und weitere Repräsentanten von Gemeinden, Städten und Landkreisen“ sowie „zahlreiche Bürgeraktionen und Bürgerinitiativen“ steht da. Was man nicht erfährt: Rund drei Viertel des Budgets stammen von einem Förderverein, dem Unternehmen und Verbände angehören und dessen offiziellen Internetauftritt man vergebens sucht. Strabag, der Deutsche Asphaltverband und 3M bestätigen die Mitgliedschaft, wenn man bei ihnen nachfragt. Andere Unternehmen und Verbände schweigen sich aus. Erkundigt man sich bei Klaus Wild nach den Finanziers, wird das Gespräch ungemütlich. Transparenz? Interna seien das. Wer mehr wissen will, solle dem Verein beitreten.

Selbst die Initiativen vor Ort erfahren nicht immer, wer da in welcher Absicht zu ihnen kommt. Mit Bürgern seiner Heimatstadt Karben, nordöstlich von Frankfurt, kämpft Harald Ruhl seit Jahren für den Bau einer Nordumgehung. Er war froh, als ihm jemand aus der Stadtverwaltung vor Jahren einen Tipp gab: „Da gibt es eine Institution, die fördert solche Initiativen.“ Als die Bürger sich das nächste Mal in der Gaststätte versammelten, kam ein Vertreter der GSV, der seine Unterstützung anbot. Auch von einem kleinen Zuschuss für Werbematerial war die Rede. Ruhl war beeindruckt – bis ein Lokaljournalist wenige Tage später vom zweifelhaften Ruf der GSV erzählte. „Wir haben uns einlullen lassen, weil wir unerfahren waren“, sagt Ruhl. Sofort schrieb er einen Brief an die Mitstreiter, die Bürgerinitiative werde nun doch auf die Zusammenarbeit mit der GSV verzichten. „Wir hätten uns doch angreifbar gemacht, wenn wir uns vor den Karren einer Lobbygruppe hätten spannen lassen.“ Auch dem Herrn von der GSV schrieb Ruhl einen Brief, mit der Bitte, ihm zu erklären, was es mit den Verbindungen zur Straßenbauwirtschaft auf sich habe. Eine Antwort kam nie.

Hausbesetzung

Als die Hausbesetzer ab 1970 leer stehende Wohnungen in Frankfurt, Berlin oder Hamburg bezogen, setzten sie in jedem Fall ein Zeichen gegen überteuerte Mieten und die Wohnraumspekulationen der Immobilienbesitzer. Mit Transparenten an den Hausfassaden verbreiteten die Hausbesetzer auch in den Niederlanden, Spanien und den USA ihre politische Botschaft und wurden nicht selten von der Polizei gewaltsam zum Auszug gezwungen. Auch heute noch okkupieren meist junge Leute gesetzeswidrig leere Wohnungen – wie kürzlich in Köln. Dagegen zahlen inzwischen viele einstige Hausbesetzer der alten Schule ganz regulär die Miete oder werden von den Hausbesitzern zumindest geduldet.