Mr. Singh hat keine Zeit für dumme Fragen. "Ich verstehe nicht, es ist meine Arbeit, mein Job", sagt er. Ende. "Next in line, please." Es ist 8.25 Uhr. Seit anderthalb Stunden arbeitet Mr. Singh in seinem Minimarkt im New Yorker East Village. Die Geschäftsleute und Banker schreien nach Kaffee und Zeitungen. Eigentlich hat Mr. Singh nie Zeit, denn sein Deli hat 24 Stunden am Tag geöffnet. Die ganze Woche lang. 24/7,wie das hier heißt. Von sieben Uhr morgens an sitzt Mr.Singh hinter dem Tresen, nach Hause geht er erst nach zwei Uhr nachts. Die Schicht zwischen zwei und sieben teilen sich Verwandte von Mr. Singh. 

Hinter dem staubigen Glas die Neonreklame:" Budweiser", "Fresh Fruit", "24 hours". Die Leuchtröhren brennen den ganzen Tag, aber erst am Abend,wenn eine offene Tür keine Selbstverständlichkeit mehr ist, fallen sie auf. Rot und blau leuchtet es, in den Farben dieses Landes, in dem der Mensch frei ist zu tun, was er will, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Delis sind der richtige Ort, um mehr zu erfahren über die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft der USA. Ein paar tausend dieser Super-Supermärkte gibt es in New York. Sie heißen "India Bazaar","Your Corner's Deli" oder schlicht "Grocery". 

Meist liegen sie an einer Straßenecke, um die Menschenströme aus allen vier Richtungen anzuzapfen.Im East Village treffen nicht nur Straßen aufeinander, das Viertel ist auch eine Kreuzung der Subkulturen und Lebensstile.Mr. Singh erlebt die Menschen in allen Zuständen: auf dem Weg ins Büro, beim Durchatmen am Nachmittag, auf der Flucht vor der Verantwortung, mitten in der Nacht. "Jeder ist ein Kunde", sagt er, "wir haben für jeden etwas."

Hinter dem Tresen läuft auf einem winzigen Fernseher eine indische Soap. In Mr. Singhs Deli ist es ähnlich bunt wie im Kitschkaleidoskop von Bollywood. Blank polierte Waren schimmern in den engen Regal- und Kühlschrankreihen, eine Produkttapete, psychedelischer als alles, was man sich in den Siebzigerjahren an die Wand klebte. Um elf Uhr kommen ein paar Touristen, deren Shirts ein Loblied auf Wyoming singen. Wenig später die ersten Studenten.

Die Fenster des Delis sind dicht zugeklebt mit Lottozahlen, Preisnachlässen und Gewinnversprechen. Man sieht nur einen kleinen Ausschnitt des Straßenbildes, in einem Sekundenbruchteil saust ein Taxi vorbei, ein Arm, ein buntes Hemd. Ein Deli ist wie eine Tankstelle an der Autobahn, hier halten die Menschen zu einem Boxenstopp, bei dem man nicht für eine gemütliche Mahlzeit einkauft, sondern nur das, was man tragen kann. Den Reisebedarf für das Ich-Mobil: Hygieneartikel, Energieriegel, Wasser, Bananen,Bier, Sandwiches. Oft auch Batterien. Dabei steht "Deli" eigentlich für "Delikatessen". 

Draußen tobt ein Sturm. Im Zentrum dieses Bewegungsorkans sitzt Mr. Singh, freundlich und dienstbeflissen, auf eigentümliche Weise unberührt vom Lauf der Zeit.Vielleicht hat er in seinen tagelangen Schichten das Zeitgefühl verloren und bedient sich bei der Lebensnavigation inzwischen anderer Kriterien. Mr. Singh schaut niemals auf die Uhr, tippt stetig auf einem Taschenrechner herum, der Geschäftstag ist nie zu Ende. Der Dollar hat die Minute ersetzt, der Cent die Sekunde. Um 16 Uhr scheint zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne in den Rücken von Mr. Singh, ansonsten sind die fünfstöckigen Backsteinhäuser gegenüber ein wirksamer Sunblocker. Ein Deli ist eine klimatisierte Kabine im ewigen Neonlicht, in der man höchstens an dem sich ändernden Kaufverhalten der Menschen merkt, ob es draußen gerade hell ist oder dunkel, Sommer oder Winter.

Um 23 Uhr ist der Laden voll. Am Tresen hat Mr. Singh strategisch geschickt eine breite Palette von Party-Placebos platziert: "Herbal Exstacy", "Ginseng Blast" und verschiedene Viagra-Imitate. Es ist jetzt die lukrativste Zeit für Mr. Singh. "Ich wünschte nur, wir könnten auch Spirituosen verkaufen", sagt er, "das ist es, was die Leute zu dieser Uhrzeit wollen." Um vier Uhr morgens schließen die Bars und Clubs in der Gegend. Über den Tag sind die Menschen immer bunter geworden. Das morgendliche Anzuggrau steigerte sich zum Pink der Party-Hour. Wer jetzt noch unterwegs ist, hat alle Farbe aus dem Gesicht verloren. Es beginnt die so genannte Friedhofsschicht. Seltsame Stille und wandelnde Leichen. Um fünf Uhr bringt ein scheppernder Truck die Zeitungen, eines der vielen graubraunen Eisenmonster, die in der Nacht die Lager von New York auffüllen, damit es am Morgen weitergehen kann. Die wenigsten sehen diese unsichtbaren Arbeiter. Mr. Singh hat den Überblick. Er lehnt auf dem Tresen und tippt mit einer Hand auf seinem Taschenrechner.