An einem sehr frühen Morgen im Sommer 2006 bekamen die Khateebs unangemeldet Besuch. Vor der Tür standen 15 Polizisten – angerückt, um die Wohnung der neunköpfigen Familie im beschaulichen Dietzenbach bei Offenbach zu durchsuchen. Und das taten sie gründlich. „Sie haben sogar in den Hähnchen im Kühlschrank nachgeguckt“, sagt Sara Khateeb, eines von drei Mädchen in der Familie. Die Polizisten suchten keine Tiefkühlnahrung, sondern jordanische Pässe. Jordanische Pässe auf den Namen Khateeb hätten bedeutet, dass die Familie nicht wie von ihnen behauptet aus dem besetzten Westjordanland kommt. Es hätte bedeutet, dass man sie sehr bald zum Flughafen gefahren hätte, um sie auszufliegen. Nach 14 Jahren in Deutschland. Asylsuchende aus den palästinensischen Gebieten aber gelten als staaten- los und dürfen nicht abgeschoben werden, ihre Heimat wird als unsicher eingestuft, es gibt viele politisch Verfolgte. Jordanien gilt hingegen als sicher. So ist die Rechtslage.

Der Fall der Familie Khateeb ist weit über die Stadtgrenzen von Dietzenbach bekannt geworden, weil er wie kaum ein anderer die vertrackte Rechtslage im Asylrecht widerspiegelt. Viele Flüchtlinge, die die schiere Not in die Industrieländer treibt, vernichten ihre Pässe, weil sie aus als sicher geltenden Ländern kommen. Aber was ist schon sicher? Staaten, in denen das Leben eben noch als erträglich galt, können schon morgen zu den Ländern gehören, deren Bürger als Asylberechtigte anerkannt werden müssen. 1992 kamen fast 440.000 Asylsuchende nach Deutschland – der bisherige Höchststand. Mittlerweile sind es keine 50.000 mehr. Der Rückgang hat weniger damit zu tun, dass es weniger Konflikte und Kriege auf der Welt gibt, weniger Hunger und Durst – es liegt wohl vor allem an der sogenannten Drittstaatenregelung. Diese besagt, dass Flüchtlinge in jenem Land Asyl beantragen müssen, das sie auf ihrer Flucht als erstes erreichen und das als sicher eingeschätzt wird. Ein Flüchtling aus dem Iran müsste daher schon direkt mit dem Flugzeug in Deutschland landen, um hier ein Bleiberecht zu bekommen. Aber ohne Visum käme er gar nicht in den Flieger. Kein Wunder also, dass die Zahl der Asylsuchenden abgenommen hat. Nur 16 Prozent von insgesamt 41.332 Asylanträgen wurden im Jahr 2010 in Deutschland positiv beschieden; dazu kamen 5,6 Prozent, denen „subsidiärer Schutz“, also ein Abschiebungsverbot, erteilt wurde.

Die Khateebs kamen 1992 nach Deutschland, als es noch keine Drittstaatenregelung gab. Sie stammen aus dem Westjordanland, so erzählten sie es den Behörden – sie waren also Palästinenser aus den besetzten Gebieten, die nicht abgeschoben werden dürfen. Damit waren sie zunächst geduldet in Deutschland, ein Zustand, der alle paar Wochen verlängert wird. Im Jahr 2006 hat die Ausländerbehörde einen Tipp aus Jordanien bekommen, Asylbewerdass die Geschichte der Khateebs nicht stimme. So begann ein Rechtsstreit, der bis heute anhält: Selbst ein Dokument der Vereinten Nationen, dem zufolge die Familie zuletzt im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin gelebt hatte, kann die hessischen Behörden nicht überzeugen.

Der Pilot weigerte sich, die Familie auszufliegen

Nach dem Polizeieinsatz beginnt für die Familie eine Zeit zwischen Bangen und Hoffen – und mit allerlei Einschränkungen: Das Einkommen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz besteht zum Großteil aus Sachleistungen und ist für den Haushaltsvorstand um rund ein Drittel niedriger als der Hartz-IV-Satz, weitere Haushaltsangehörige erhalten nach Alter gestaffelt zwischen 132,93 und 199,40 Euro. Zudem gibt es die sogenannte Residenzpflicht: Sie besagt, dass sich ein Asylsuchender nicht ohne Erlaubnis aus dem Regierungsbezirk, dem Landkreis oder der Stadt, in der er wohnt, entfernen darf. Die Kinder, von denen vier in Deutschland geboren sind, gehen normal zur Schule oder in den Sportverein, sie lernen Deutsch, später machen einige Abitur, beginnen ein Studium. Vater Majed Khateeb, ein gelernter Elektriker, kümmert sich morgens um das Frühstück und bringt die Kinder zur Schule. Kurzum: Sie integrieren sich vorbildlich – aber immer mit dem Wissen, noch abgeschoben werden zu können aus ihrer neuen Heimat. „Wir haben nicht gelebt, nur von Tag zu Tag existiert“, sagt Hassan, mit 23 Jahren der älteste Khateeb-Sohn, heute. „Das war, als hinge ein Schwert über unseren Köpfen.“

Und dann kommt das Schwert wieder runter: Fast anderthalb Jahre nach dem ersten Einsatz kommt die Polizei zurück – weil das Asylverfahren für die Familie rechtskräftig abgeschlossen wurde, und die Ausländerbehörde eine Ausweisungsverfügung erlassen hat. Drei Einsatzbusse und ein Kripo-Wagen parken am 25. November 2007 im Hof, Sirenen heulen, die Beamten stürmen in die Wohnung, als die Khateebs gerade beim Abendessen sitzen. Alle müssen ihre Sachen packen, die Polizei bringt sie zum Flughafen, wo schon ein Flugzeug bereitsteht, um sie nach Jordanien zu fliegen. Ein Land, das ihnen fremd ist. Oder doch nicht? Aber der Pilot weigert sich kurzerhand, die Familie auszufliegen. Sie kann zurück in die Wohnung, allerdings wird Vater Majed Khateeb in Abschiebehaft genommen und acht Tage später tatsächlich abgeschoben.

Die Khateebs müssen also weiterkämpfen. Sie reichen eine Petition beim hessischen Landtag ein, die ihren Verbleib in Deutschland bewirken soll. Damit kann gegen formal zulässige, aber unverhältnismäßige Behördenentscheidungen protestiert werden. Unverhältnismäßig könnte sein, eine Familie, deren Kinder teilweise in Deutschland geboren sind und die zum Teil keine andere Sprache als Deutsch sprechen, aus dem Land zu werfen. Doch der Petitionsausschuss im hessischen Landtag lehnt die Eingabe ab. Majed Khateeb wartet derweil in Jordanien auf seine Rückkehr – in einem kleinen Zimmer in der Hauptstadt Amman. Die Familie unterstützt ihn jeden Monat mit etwas Geld, per E-Mail halten sie Kontakt. Manchmal schieben die Khateebs eine DVD in den Rekorder. Auf dem Bildschirm erscheint Majed Khateeb dann unter einem RTL-Logo und erzählt, dass er seine Frau und seine Kinder vermisst.

Es ist nicht die einzige Fernsehsendung, die die Khateebs aufgenommen haben, viele Medien haben über den Fall berichtet, es gab Mahnwachen von Dietzenbacher Bürgern vor der Ausländerbehörde, Schulkameraden, Lehrer und Kommilitonen organisierten Kundgebungen und Demonstrationen. Über Jahre bemühen sich die Khateebs, den Paragrafendschungel, in dem sie feststecken, zu durchschauen. Hassan studiert mittlerweile Jura, vielleicht kann ihnen das weiterhelfen. Im Jahr 2009 landet der Fall schließlich vor der Härtefallkommission. Die ist besetzt mit Politikern, Kirchenvertretern und Mitarbeitern von gemeinnützigen Organisationen. Sie alle können in strittigen Situationen eine Empfehlung abgeben, für den Verbleib von Asylbewerbern in Deutschland. Der Landesinnenminister entscheidet dann. Meist ist es so, dass gut integrierte Asylbewerber mit Perspektive ein Bleiberecht erhalten – wenn es gut läuft.

Und es läuft gut: Am 6. Oktober 2010 gibt die hessische Landesregierung bekannt, dass die Khateebs in Deutschland bleiben dürfen. Letztlich ausschlaggebend war für den zuständigen Minister „die erfolgreiche Integration der Kinder“. Der Innenminister sagt aber auch, dass das Bleiberecht nicht für den Vater gilt. „Hier muss in einem gesonderten Verfahren neu entschieden werden.“ Der Kampf geht also weiter. Auch Experten und Wissenschaftler haben sich mit dem Schicksal der Khateebs auseinandergesetzt, wie etwa Rainer Hofmann, Professor für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er glaubt, dass die Khateebs ohnehin einen Anspruch auf ihr Verbleiben in Deutschland haben. So schütze Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention die Menschen, die „keine Beziehung in das Land der Abschiebung“ haben. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hätte Familie Khateeb wahrscheinlich recht bekommen, da sie einen hohen „Grad an Verwurzelung“ nachweisen könnte. Und Hofmann glaubt auch: „Die Khateebs sind doch von der Sorte Einwanderer, von denen es immer heißt, wir brauchen sie.“

Die Wohnung der Khateebs ist spärlich eingerichtet, der Boden ist überall gefliest. Auf einem Holzstuhl gegenüber dem abgewetzten, grauen Kunstledersofa liegen sieben Gebetsteppiche, an der Wand hängen ein einziges Bild mit einem Boot im Schilf drauf und ein Wandkalender, auf dem steht: „Lust auf Deutschland“. Um einen Antrag auf Wiedereinreise ihres Vaters stellen zu können, müssen die Khateebs nun erst einmal die Kosten für dessen Abschiebung tragen: die Ausgaben für sein Flugticket, die der vier begleitenden Polizisten und eines Arztes, für die Hotelübernachtungen und Taxifahrten. Alles in allem an die 10.000 Euro. Auch das ist so im Gesetz vorgesehen.