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Warum nicht zu Fuß gen Norden laufen, fragen sich die Flüchtlinge in „Die Hungrigen und die Satten“ – und marschieren einfach los. Eine Gesellschaftssatire, die aktueller kaum sein könnte

Er hat es wieder getan. Timur Vermes, der vor ein paar Jahren mit seinem ersten Roman, der Hitler-Satire „Er ist wieder da“, einen ebenso gigantischen wie überraschenden Verkaufserfolg landen konnte, hat seinen zweiten Coup fertig. „Die Hungrigen und die Satten“ stieg gleich nach Erscheinen ganz vorne auf der Spiegel-Bestsellerliste ein – genau zur richtigen Zeit, denn Vermes’ Roman ist ein Gegengift zum gleichzeitig erschienenen Sarrazin-Pamphlet „Feindliche Übernahme“, das die danebenliegende Spalte der Sachbuch-Bestseller anführt.

Erinnert sich eigentlich noch jemand an Verona Feldbusch? Für die Jüngeren: Das war eine vor einigen Jahren in den Medien dauerpräsente Frau, die damit kokettierte, ebenso hübsch wie ungebildet zu sein. Allerdings strahlte sie eine so erfrischende Naivität aus, dass man gar nicht anders konnte, als sie irgendwie gern zu haben. Viele werden wohl bei der Lektüre von Timur Vermes’ Buch unweigerlich dieses Geschöpf des Privatfernsehens vor dem inneren Auge haben. Denn „Die Hungrigen und die Satten“ handelt unter anderem von den Erlebnissen einer Fernsehmoderatorin namens Nadeche Hackenbusch, die man sich hervorragend mit dem üppigen Make-up einer Verona vorstellen kann.

Timur Vermes’ Gesellschaftssatire „Die Hungrigen und die Satten“ ist 509 beklemmende Seiten lang und bei Eichborn erschienen

Je größer das Leid, desto höher die Einschaltquoten

„Engel im Elend“ heißt eine Fernsehshow, die Nadeche Hackenbusch beim Privatsender MyTV moderiert. Darin sucht sie ein deutsches Flüchtlingsheim heim, um Güte und Mitmenschlichkeit zu verbreiten. Der Quotenerfolg dieses Konzepts führt die Fernsehmacher auf eine Idee: Sie schicken Nadeche in ein riesiges Flüchtlingslager irgendwo in Afrika (die Handlung spielt in einer nicht genau definierten, aber nicht allzu fernen Zukunft), um „Engel im Elend“ in größerem Maßstab fortzusetzen.

Hier beginnen die Dinge eine Eigendynamik anzunehmen. Nadeche verliebt sich in einen jungen Mann, der schon lange davon träumt, zu Fuß aus dem Lager in ein besseres Leben aufzubrechen. Auf sich allein gestellt, wäre dies ein hoffnungsloses Unterfangen. Doch wenn man einen großen Flüchtlingszug organisierte? Mit der Unterstützung eines wirkmächtigen Lager-Mafiosos gelingt es, eine Logistik auf die Beine zu stellen, die es schließlich hundertfünfzigtausend Menschen ermöglichen wird, an einem großen Trek nach Deutschland teilzunehmen. Und alles zu Fuß. Ganz vorn mit dabei: Nadeche Hackenbusch, die wild entschlossen ist, das Los der Menschen zu teilen, und der Fernsehsender MyTV, dessen Verantwortliche von den Geschehnissen zwar komplett überrollt werden, aber doch dankbar auf den Zug aufspringen, da die Quote von „Engel im Elend“ ins Phantastische steigt.

 

Ein Plot, wie aus der Tagesschau abgeschrieben 

Timur Vermes kann sein Metier. Als gestandener Boulevardjournalist weiß er genau, wie man auf eine Pointe hinschreibt und welche scheinbar nebensächlichen Details einen Text süffig und lustig machen. In diesem Roman zeigt er aber auch, dass er die große Linie halten kann. Mit der Wanderung der Hundertfünfzigtausend entwirft er ein Szenario, das höchst satirisch ist – und dennoch nicht komplett unrealistisch: Mehrere Tausend Mittelamerikaner sind gerade zu Fuß auf dem Weg in Richtung USA. Während sie vor Armut, Hunger und Gewalt fliehen, kündigt US-Präsident Trump an, bis zu 15.000 Soldaten an die Grenze schicken zu wollen, um die Migranten von der Einreise abzuhalten.

Vermes geht es nicht darum, ein Schreckensbild zu zeichnen, sondern diejenigen als gefährliche Hysteriker zu entlarven, denen als einzige Antwort auf die Fluchtbewegungen das Schließen der Grenzen einfällt. Ironische Pointe: Als einziger realistisch argumentierender Politiker, der sich mit der Einwanderung als Tatsache abgefunden hat und schon mal ein Konzept für die dauerhafte, geordnete Eingliederung neuer Menschen in die Gesellschaft entwirft, tritt im Roman der Innenminister auf.

Und Achtung: Bitter ist auch das Ende des Romans. Aber so muss es halt manchmal sein, wenn man ein Szenario konsequent zu Ende denkt.

Titelbild: Eugenio Grosso/Redux/laif


 

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