Paul Steiger ist wohl das, was man auf den Straßen von New York Old School nennt, ein Mann aus einer anderen Zeit: Der 67-Jährige trägt eine braune Ledertasche, eine Kassenbrille mit Goldrand und ein zwei Nummern zu großes Tweed-Jackett. Ein Bilderbuch-Journalist. Und so arbeitet er auch: Paul Steiger bewertet Fakten, nicht Trends, er liebt Dokumente statt bunter Bilder, kümmert sich lieber um Informanten als um VIPs. Mehr als 20 Jahre lang war er u.a. Redaktionsleiter des »Wall Street Journal«, unter seiner Führung gewann die Zeitung 16 Pulitzerpreise – die renommierteste Auszeichnung für Journalisten in den USA – und als er dann 2007 in Rente gehen sollte, da packte der Mann der alten Schule sein Jackett und die Ledertasche, verließ die Redaktion an der Wall Street und begann zwei Blocks uptown noch einmal ein neues Leben.

Denn schon vor seiner Pensionierung bekam Steiger einen Anruf vom US-Milliardär Herbert Sandler. »Ich kannte ihn nicht besonders gut«, erinnert er sich an den ersten Kontakt mit dem Finanzinvestor, »hatte ihn aber als interessanten Gesprächspartnerkennengelernt.« Er mache sich Sorgen um die amerikanische Demokratie, sagte Sandler am Telefon, und fragte Steiger, ob er eine Non-Profit- Organisation aufbauen wolle, die investigativen Journalismus betreibe – also eine Zeitung als Stiftung. Das Projekt Pro Publica war geboren. »Ich habe ein Problem mit Machtmissbrauch, egal ob er in der Wirtschaft oder in Regierungen passiert«, so lautete Sandlers Begründung.

Zwei Jahre später ist Pro Publica eines der interessantesten Projekte in der ansonsten von der Wirtschaftskrise ziemlich verwüsteten amerikanischen Nachrichtenlandschaft. Rund 30 Reporter hat Steiger von renommierten Zeitungen wie der »Washington Post« oder der »New York Times« für das revolutionäre Projekt abgeworben. Finanziert wird Pro Publica durch eine jährlich zehn Millionen Dollar betragende Spende der Sandler Foundation sowie kleineren Beträgen der MacArthur Foundation und der Atlantic Philanthropies. Revolutionär ist jedoch nicht nur die Anwendung des Stiftungsrechts im Medienbetrieb, sondern auch die Verbreitung der Storys: Die Non-Profit- Publizisten haben in ihrem ersten Arbeitsjahr Skandale und Missstände im Gesundheitswesen und bei den staatlichen Arbeitslosenversicherungen aufgedeckt, haben nachgewiesen, dass Ölfirmen bei Probebohrungen das Grundwasser verseuchen – und die Regierung wegschaut. SolcheNachrichten veröffentlichen sie auf der Webseite propublica.org, auf der oben rechts ein ungewöhnlicher Button steht: »Steal our stories«, fordert Pro Publica die Seitenbesucher auf. Denn Pro Publica veröffentlicht seine Nachrichten unter einer Creative- Commons-Lizenz, sodass sie jederkostenfrei veröffentlichen und verwenden darf, solange ein Verweis auf nund ein Link zur Quelle erfolgt. Dieses Modell passt nicht nur zur Gratismentalität des Internets, es garantiertauch eine möglichst große Verbreitung der Nachrichten. Manchmal schließt Pro Publica auch exklusive Verträge mit großen Medien, um eine besonders wichtige Story in den Schlagzeilen zu platzieren. Als sie zum Beispiel die teure und zweifelhafte Propaganda der Bush-Regierung in Nahost untersuchten, lief die Pro-Publica- Reportage in der Sendung »60 Minutes« auf CBS, dem heiligsten Sendeplatz des US-Medienbetriebs vor rund 20 Millionen Zuschauern.

Richard Tofel hat als Herausgeber beim »Wall Street Journal« gearbeitet, und neben der Arbeit an Vertriebszahlen und Verträgen noch Zeit gefunden, ein Buch über die »Erfindung des modernen Journalismus« zu schreiben. Später folgte er Steiger zu Pro Publica, um ebendiesen modernen Journalismus zu retten – oder was davon noch übrig ist. Wenn er in der U- Bahn zur Arbeit fährt, erzählt Tofel, sieht er um sich herum nur noch Leute mit iPods und mobilen DVD-Playern anstelle von Zeitungen.

Die amerikanischen Printmedien sind von der Krise noch härter betroffen als andere Branchen. Sie leiden nicht nur unter der konjunkturellen Delle, sondern haben auch strukturelle Probleme. Seit Jahren wandern Leser und Anzeigen ins Internet ab – und hinterlassen rote Zahlen in der Bilanz. Große Zeitungen wie die »Chicago Tribune«, die »Los Angeles Times« oder der »Philadelphia Inquirer« mussten in den letzten Monaten Insolvenz anmelden. Die »Rocky Mountain News« in Denver hat vor Kurzem dichtgemacht, und auch der berühmte »San Francisco Chronicle« wird vielleicht bald schließen. Eine amerikanische Großstadt ohne Tageszeitung – das ist im Jahr 2009 längst keine absurde Vorstellung mehr.

Richard Tofel erinnert sich noch gut daran, wie er mit dem Internet Bekannt gemacht wurde. Es war 1993, sagt er, und die Techniker des »Wall Street Journal« zeigten ihm Webseiten und Hyperlinks. Besonders gut erinnert er sich an die Demonstration der Tastenkombinationen Strg C und Strg V – und wie einfach es plötzlich war, einen Artikel zu kopieren. »Das wird unser Geschäft stark verändern. Wir werden weniger Geld verdienen«, hat Tofel damals gesagt. Aber lange wollte das niemand hören. Die Printmedien lieferten während des wirtschaftlichen Booms spektakuläre Renditen – und um die hohen Erwartungen von Investoren und Börsenanalysten zu befriedigen, begannen die Medienkonzerne und Eigentümerfamilien bereits in den guten Tagen damit, die Budgets zu kürzen, Auslandsbüros zu schließen und teure Angestellte wie die investigativen Reporter zu entlassen. Die Krise beschleunigt diesen Zerfallsprozess noch weiter. Im vergangenen Jahr verloren in den USA 16.000 Journalisten ihre Arbeit – ein Jobabbau von mehr als 20 Prozent.

Pro Publica bietet den investigativen Reportern eine neue Heimat. Der Newsroom liegt im 23. Stock eines älteren Büroturms in Downtown Manhattan. Reporter arbeiten in ihren Cubicles, das Klappern der Keyboards und aufgeregte Stimmen erfüllen die Luft. Die Pro-Publica-Redaktion sieht mit ollem Teppich, Neonlicht und Paul Steiger in seinem übergrossen Tweed-Jackett, aus wie das Filmset von »All the President’s Men«, in dem Dustin Hoffman und Robert Redford die Watergate-Aufdecker Woodward und Bernstein spielen, die Präsident Nixon zu Fall bringen und die Demokratie retten. Auch wenn Flachbildschirme und teure Espressomaschinen fehlen, bezeichnen die PP- Reporter ihren Arbeitsplatz als Paradies. »Es geht nicht um Einschaltquoten und Auflagentrends«, meint einer, »sondern um das, was in der Geschichte drin steht.« Der Job des investigativen Reporters ist nicht besonders glamourös, er analysiert nicht vor der Kamera die Lage der Nation, sondern arbeitet sein Adressbuch durch, hängt am Telefon, spricht mit potentiellen Informanten, liest Tausende Seiten von Dokumenten – und findet manchmal trotz drei Wochen Arbeit nichts raus. Paul Steiger bemisst die Leistung seines Unternehmens gerne in »story impact«. Hat die Veröffentlichung einer Skandal- Story auch Folgen? Sprechen die Menschen darüber? Ist jemand zurückgetreten? Wird das Problem behoben?

Ähnlich wie Think Tanks und politische Stiftungen, die versuchen, die Debatte in Washington zu beeinflussen, agiert Pro Publica als unabhängiger Akteur auf dem Nachrichten- Markt, ein »Dig Tank«. Statuten und ein Redaktionsbeirat sollen sicherstellen, dass die Geldgeber keinen Einfluss auf die Themensetzung und Arbeit der Redaktion haben. Pro Publica soll ja kein Sprachrohr eines liberalen Milliardärs sein, sondern sich laut Tofel um große Themen wie Gesundheit und Menschenrechte kümmern, »Themen mit einer gewissen moralischen Kraft«. Anfang 2009 berichteten sie, dass amerikanische Psychologen und Mediziner an der Planung und Durchführung von CIA-Folter- Verhören beteiligt waren. Die Story dominierte die Nachrichten in Washington – und selbst Obama musste vor die Presse treten. Wer soll diese Aufgabe des so genannten Muckraking (etwa: im Dreck wühlen) übernehmen, wenn die großen Zeitungen wie »New York Times« und »Washington Post« ums Überleben kämpfen, und immer mehr Stellen einsparen müssen? Das Non-Profit-Konzept von Pro Publica ist auch ein großes Experiment, das klären könnte, wie man Nachrichtenproduktion und Recherche in Zukunft organisieren und finanzieren könnte. David Swensen und Michael Schmidt, Finanzprofis der Universität Yale und erfahren im Non-Profit-Business, forderten im Januar 2009 in der »New York Times«, dass »unsere am meisten geschätzten Nachrichtenquellen mit einem Stiftungsvermögen ausgestattet werden, so dass sie von ihrem überkommenen Geschäftsmodell befreit werden, und einen permanenten Platz in unserer Gesellschaft erhalten, genau wie die amerikanischen Universitäten und Museen«. Der »New Yorker « fragte wenig später: »Bill (Gates)? Warren (Buffet)? Ihr könnt die Meinungsfreiheit retten! Wer spendet die erste Milliarde?«

Das Modell Pro Publica findet viele Mitkämpfer. Das liberale Magazin »Mother Jones« ist ebenfalls als Stiftung organisiert. Und in Minnesota gibt es seit Kurzem die »MinnPost«, eine Nonprofit-Online-Lokalzeitung, die sich durch Beiträge von Stiftungen, wohlhabenden Bürgern und etwa 900 Leser-Mäzenen finanziert. Manche in den USA träumen bereits von öffentlich-rechtlichen Zeitungen und der Non-Profit »New York Times«, aber im Heimatland des freien Marktes kommen solche Ideen nicht besonders gut an. Auch Paul Steiger ist skeptisch: »Ich glaube, dass Non-Profit einige Lücken schließen kann«, sagt er, aber die Journalisten müssten sich auch neue Dinge für neue Zeiten einfallen lassen, und nicht darauf hoffen, dass der Status Quo in einer Stiftung konserviert werde. Der Mann der alten Schule fühlt sich im neuen Medium Internet deshalb sehr wohl, schätzt die Info-Grafiken und Hyperlinks, und baut gerade ein Bürgerjournalisten-Programm auf, mit dem Leser zu Informanten werden sollen. »Ich glaube nicht, dass Bürgerjournalisten und Blogger allein die traditionellen Aufgaben der Zeitungen übernehmen können«, sagt sein Kollege Richard Tofel,»aber manchmal wissen Leser mehr als die Autoren. Wir sollten ihnen zuhören.«

Tobias Moorstedt (32) ist Journalist und hat vor Kurzem ein Buch über digitale Medien in den USA veröffentlicht (erschienen im Suhrkamp Verlag)