Die Rebellen leben in einem Tal mitten im Schwarzwald, zwischen weichen, grünen Hügeln, auf denen ein paar Windräder stehen und Kühe träge herumliegen. Der Ort heißt Schönau, hat 2500 Einwohner und wirkt wie ein Dorf, in dem man nicht viel tun kann, außer die gute Luft zu atmen. Das wissen auch Ursula und Michael Sladek, die Anführer der Rebellen, deren Hauptquartier knapp hinter dem Ortseingang liegt „Das ist ein Kaff hier, politisch ein tiefschwarzes Loch“,sagt Michael Sladek. Das Hausdach mit den Solarzellen hinter ihm ist der einzige Hinweis darauf, warum die Menschen in den Büros darunter als die „Schönauer Stromrebellen“ berühmt geworden sind. Ihre Geschichte handelt vom Kampf um Selbstbestimmung,von Strom aus Wind, Sonne, Wasser, Gas. Um diesen Strom zu bekommen, haben die Bürger Schönaus 1997 ihr Stromnetz gekauft. So etwas hatte es in der Bundesrepublik noch nie gegeben. Lange hatten die Schönauer kein Problem mit ihrem Energieversorger, den Kraftübertragungswerken Rheinfelden (KWR).

Der Strom für die Kühlschränke, Lampen und Fernseher kam aus Leitungen und Steckdosen in der Wand, der Rest interessierte keinen. Auch die Sladeks nicht. Das änderte sich im April 1986. In den Tagen nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl saß Ursula Sladek mit einem Gipsbein in ihrem Wohnzimmer, während ihre Kinder durch den Garten rannten, auf den der radioaktive Regen gefallen war. Sie fühlte sich hilflos. Sobald sie wieder laufen konnte, trat Ursula Sladek der Initiative „Eltern für eine atomfreie Zukunft“ bei. Die Idee der Initiative: Strom sparen, um Atomkraft überflüssig zu machen. Naiv klopften sie bei ihrem Energieversorger an, baten um Unterstützung. Bei der KWR, die einen Großteil ihres Stroms aus Kernkraftwerken bezog, hielt man die Eltern für verrückt.

Stromsparer unterstützen – das hieße ja, sich selbst die Einnahmen abzugraben. „In dem Moment“, sagt Ursula Sladek heute, „wurde mir erst klar,dass es um Geld geht.“ Lange vor der Liberalisierung des Strommarktes, lange bevor ein grüner Bundesumweltminister Gesetze unterschrieb, die erneuerbare Energien förderten, begriff sie so, dass Strom eine Ware ist wie jede andere. Und wer kauft, entscheidet auch, wo und was er kauft. Auf einmal ging es nicht mehr nur darum, Strom zu sparen. Jetzt hatten sie einen Feind. Das gilt für Strom genauso wie für Jeans oder Kartoffeln. Nur kann, wer lieber Biokartoffeln essen möchte, einfach den Laden wechseln. Beim Strom hatten die Schönauer keine Wahl - der Vertrag der Gemeinde mit ihrem Energieversorger band alle Bürger. Die KWR sah keinen Grund, Rücksicht auf Eltern zu nehmen, die Angst vor einer radioaktiven Zukunft hatten. Der Konzern hatte die Schönauer Atomgegner unterschätzt. Die nahmen die Arroganz der KWR persönlich. Auf einmal ging es nicht mehr nur ums Stromsparen, jetzt hatten sie einen Feind. Die Stunde der Rebellen schlug ein paar Jahre später, als der Konzern den Vertrag mit Schönau verlängern wollte. Die KWR machte dem Dorf ein Angebot: Vertragsverlängerung um zwanzig Jahre, dafür sollte die Gemeinde jährlich 25000 Mark mehr für die Konzession bekommen. Der Gemeinderat wollte unterschreiben, Ursula Sladek machte jedoch einen Gegenvorschlag: „Wir machen uns unabhängig. Die 25000 Mark bringen wir mit Spenden zusammen, in ein paar Jahren haben wir noch dazu genug Geld, um das Stromnetz zu kaufen. Dann suchen wir Stromlieferanten, die nichts mit Atomstrom am Hut haben.“ In der KWR schüttelten sie die Köpfe. Man könne ein Atomkraftwerk wie das in Tschernobyl doch nicht mit einer deutschen Anlage vergleichen! Dann könne man gleich deutschen Busunternehmen die Zündschlüssel wegnehmen, wenn in einem Entwicklungsland ein Schulbus einen Hang hinunterstürze, argumentierte KWR-Vorstand Gerhard Haury. Ursula Sladek ließ sich nicht beirren: Sie gründete mit Gleichgesinnten die Elektrizitätswerke Schönau (EWS) und ließ den Wert der verlegten Kabel, der Verteilerkästen und Strommasten in der Gemeinde schätzen. Anschließend reiste sie durch die halbe Republik, um die errechneten 3,9 Millionen Mark zu sammeln.

Damit wollte sie der KWR diese Strominfrastruktur abkaufen. Eine große Werbeagentur entwickelte kostenlos eine Kampagne, die das Dorf mit einem Schlag berühmt machte: Die Schwarzwälder wurden zum neuen Symbol der seit den Neunzigern nur noch vor sich hin dämmernden Anti-AKW-Bewegung. Der Gemeinderat war beeindruckt, er wollte das Stromnetz an die EWS verkaufen. Die Sladeks und ihre Mitstreiter jubelten. Doch dann kam der Schlag: Die Gegner der Rebellen wollten mit einem zweiten Bürgerentscheid alles rückgängig machen. Zu ihnen gehörte der größte Arbeitgeber im Ort, die Kunststoffwerke Frisetta, der um sein solides Image bangte. Und natürlich der Stromversorger, der verbreiten ließ, dass die Schönauer bald im Dunkeln sitzen würden. Die Bürger zögerten. Wem sollten sie eher glauben? Dem Konzern, der sie jahrelang versorgt hatte, oder einer Hand voll idealistischer Bürger, deren Hauptfiguren eine Hausfrau und ein Arzt waren? „Strom hat etwas Mystisches“, sagt Michael Sladek, „das war ein Problem. Wir mussten Gefühle für eine Sache wecken, unter der sich kein Mensch wirklich etwas vorstellen konnte.“ Andere hätten nun vielleicht aufgegeben. Die Sladeks kochten Marmelade. Auf die Gläser klebten sie Zettel mit einem großen „Nein“ – Nein zum Bürgerentscheid gegen die Sladeks. Damit zogen sie von Haustür zu Haustür. Vielleicht haben sie es so geschafft, Gefühle für leblosen Strom zu wecken – und wenn es die Angst vor einem zweiten Tschernobyl war. Vielleicht ging es den Menschen auch gar nicht so sehr um Umweltschutz, sondern darum, einmal im Leben einen mächtigen Gegner zu besiegen. Nach der Abstimmung – 52 Prozent stimmten für die EWS – kam ein Mann strahlend auf Michael Sladek zu: „Herr Doktor, zum ersten Mal im Leben gehöre ich zu den Gewinnern“, sagte er.  Heute sitzt Ursula Sladek mit 15 Mitarbeitern im EWS-Gebäude am Ortseingang und handelt mit Strom, zehn Stunden täglich. Der Bund der Energieverbraucher stellte 2004 fest, dass der umweltfreundlichste Strom aus Schönau kommt. Die EWS produzieren den Strom nicht selbst, sie kaufen ihn von Betreibern, die nichts mit der Atomwirtschaft zu tun haben. Außerdem fördern sie „Rebellenkraftwerke“ – Privatleute, Kirchen oder Schulen, die mit Solardächern oder Blockheizkraftwerken im Keller Ökostrom produzieren. 820 solcher Kraftwerke gibt es bereits, ihre Betreiber bekommen den „Sonnencent“ ausbezahlt, der im Strompreis der EWS enthalten ist. Wer den Strom, den sein Solardach erzeugt, an die EWS verkauft, bekommt laut einer Rechnung des Bundes für Energieverbraucher sechs Cent mehr pro Kilowattstunde, als gesetzlich vorgeschrieben ist. 23000 Kunden beziehen ihren Strom heute bundesweit von EWS, darunter der Schokoladenhersteller Ritter Sport. Jeden Monat kommen ein paar hundert dazu. Werbung braucht es dafür nicht – der Mythos um die Stromrebellen hält an.


Außerhalb des EWS-Büros ist in dem Schönau von heute nicht mehr viel Rebellenstimmung zu spüren. In der Kneipe, in der damals flammende Reden gehalten wurden, sitzen jetzt Männer um den Stammtisch und müssen überlegen, warum sie für die EWS gestimmt haben. „Ich wollte die Macht dieses Monopolisten brechen“, sagt einer, sein Nachbar zuckt mit den Schultern: „Ist lange her. Wenn der Strom aus der Steckdose kommt, sieht man eh nicht, was davon der Atomstrom ist und was Öko.“ Schönau wird einmalig bleiben. Nicht nur, weil es mindestens zwei Sladeks braucht, um ein verschlafenes Dorf so aufzurütteln. „Keine Gemeinde muss ihr Stromnetz kaufen. Das macht überhaupt keinen Sinn“, sagt Georg Erdmann, Energieexperte an der Technischen Universität Berlin. „Seit der Strommarkt liberalisiert wurde, kann jeder Bürger den Stromanbieter wechseln, wie es ihm passt. Wenn die in Schönau das nicht verstanden haben, begreifen sie den Strommarkt nicht.“ Ursula Sladek schüttelt den Kopf. „Wir sagen ja gar nicht: Bürger, kauft eure Netze. Wichtig ist doch vor allem zu sehen, dass man zusammen etwas erreichen kann. Wenn das in diesem Kaff hier geht, geht es überall.“