Im Auftrag der Europäischen Union trainieren deutsche und andere europäische Marine-Soldaten die libysche Küstenwache, um „das ‚Geschäftsmodell‘ des Menschenschmuggels auf der Zentralen Mittelmeerroute zu unterbinden“. Die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Watch hingegen spricht von „EU-finanzierter Gewalt gegen Flüchtende“. Im Mai gab es eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den zivilen Helfern von Sea-Watch und der libyschen Küstenwache. Was ist da los?

Am frühen Morgen des 10. Mai ruft der Passagier eines Holzboots mit einem Satellitentelefon bei der Seenotrettungsleitstelle in Rom an. Mindestens 300 Menschen seien mit ihm an Bord, erklärt er, viel zu viele, sie bräuchten dringend Hilfe. Dann diktiert er die GPS-Koordinaten der Position des Schiffs. Der Mitarbeiter, der in Rom den Notruf entgegennimmt, sieht auf der elektronischen Seekarte, dass der zivile Seenotrettungskreuzer Sea-Watch 2 nicht weit von der Position des Holzboots entfernt ist. Er meldet der Besatzung den Notfall. Dann übermittelt er die Position des Holzboots auch der libyschen Küstenwache in Tripolis.

Auch in diesem Sommer legen an manchen Tagen wieder hunderte wackelige Boote mit tausenden Menschen von der libyschen Küste in Richtung Europa ab. Sie geraten schnell in Seenot. Die Crews der italienischen Küstenwache, die Mannschaften von Handels- undMarineschiffen sowie rund ein Dutzend Boote ziviler Seenotrettungsorganisationen sind dann meist rasch vor Ort, um zu helfen. Trotzdem ertrinken viele: In diesem Jahr sind bis Ende Juli schon knapp 2400 Menschen gestorben.

Update: Flucht nach Europa

Es ist Sommer und damit die Zeit, in der in den vergangenen Jahren viele Flüchtlinge versucht haben, nach Europa zu gelangen. Wie ist die Lage in diesem Jahr? Hier ein Überblick

Einige EU-Vertreter sind davon überzeugt, dass erst die Präsenz der zivilen Rettungsschiffe viele dazu bringt, die Überfahrt zu wagen

Einige EU-Vertreter sind davon überzeugt, dass es erst die Präsenz der Rettungsschiffe von zivilen Seenotrettungsorganisationen ist, die so viele Menschen dazu bringt, die Überfahrt von Libyen aus in Richtung Europa zu wagen. Denn treffen die zivilen Rettungskräfte auf Flüchtlinge in Seenot, bringen sie sie nach Europa. Auch deshalb fordern die EU-Staatschefs, dass in Zukunft die libysche Küstenwache die Seenotrettung im südlichen Mittelmeer übernehmen und die Menschen konsequent zurück nach Afrika bringen soll. Im Februar vereinbarten sie in Malta, mehr als eine Milliarde Euro in die Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache zu stecken. Im Juli legte die EU noch mal 46 Millionen Euro nach. Auf das Fehlverhalten von libyschen Beamten gegenüber Flüchtenden angesprochen, sagt Federica Mogherini, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitk der EU, die Menschenrechtskomponente spiele bei der Zusammenarbeit mit Libyen eine große Rolle.

 

Derzeit üben die Männer, die die libysche Einheitsregierung als Küstenwächter einsetzen will, in italienischen Häfen, wie die Schnellboote zu bedienen sind, die sie von Italien bekommen sollen. An Bord von europäischen Kriegsschiffen schulen Beamte der Grenzschutzagentur Frontex die libysche Küstenwache schon seit Herbst, wie die Daten europäischer Satellitenüberwachungssysteme auszuwerten sind, und Mitarbeiter der Vereinten Nationen machen sie mit der Genfer Menschenrechtskonvention vertraut, die Libyen nie unterzeichnet hat.

Am frühen Morgen des 10. Mai ist das bislang einzige hochseetaugliche Schiff der libyschen Küstenwache von Tripolis nach Westen in Richtung Sabrata aufgebrochen, wo zurzeit viele  Flüchtlingsboote ablegen. Mit an Bord ist ein deutscher Reporter von SPIEGEL TV. Er steht auf der Brücke gleich neben dem Kapitän, als der gegen halb acht von der Kommandozentrale in Tripolis den Notruf des Holzboots entgegennimmt. Dieser Moment ist wie alle weiteren der im Folgenden beschriebenen Szenen an Bord des Schiffs der libyschen Küstenwache auf dem Videomaterial von SPIEGEL TV festgehalten.

Zurzeit werden alle Seenotfälle im Mittelmeer von Rom aus koordiniert. Bald soll es in Tripolis ein eigenes Seenotrettungszentrum geben

Nach eigenen Angaben hat die Sea-Watch 2 da schon Kurs auf das Flüchtlingsboot genommen, die Mannschaft sichtet es vor der libyschen Küstenwache. Wenige Minuten später meldet der deutsche Kapitän dem Koordinierungszentrum in Rom, dass seine Mannschaft mit der Rettung beginne, so werden es die Crewmitglieder der Sea-Watch 2 später erzählen.

Demnach machten sie sich zunächst daran, die beiden kleinen Schnellboote, die auf dem Deck vertäut sind, ins Wasser zu lassen. Damit wollten sie sich den Flüchtlingen zuerst nähern, Schwimmwesten verteilen, sie über den Ablauf der Rettung informieren. Die Sea-Watch 2 selbst soll mit einigem Abstand hinterherfahren. Wenn Menschen in Seenot ein großes Schiff sehen, reagieren sie oft unvernünftig: Manchmal springen sie ins Wasser, obwohl sie nicht schwimmen können. Oder alle laufen auf eine Seite, weil sie als Erste gerettet werden wollen, und bringen so ihr Boot zum Kentern.

Als das erste Schnellboot fast im Wasser ist, klingelt erneut das Bordtelefon. Ein Mitarbeiter des Koordinierungszentrums in Rom meldet, die libysche Küstenwache übernehme die Rettung, so berichten es Mitglieder der Sea-Watch-Crew.

Zurzeit werden alle Seenotfälle im Mittelmeer von Rom aus koordiniert. Das soll sich bald ändern: Bei dem Treffen im Februar beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs des Weiteren, mit den libyschen Behörden in Tripolis ein eigenes Seenotrettungszentrum aufzubauen. Sobald dies existiert, soll die libysche Küstenwache für alle Seenotfälle, die sich im südlichen Mittelmeer ereignen, selbst verantwortlich sein: Sie sollen die Notrufe entgegennehmen und auch die Rettungen koordinieren. Zivile Organisationen, die ein Boot in Seenot finden, müssen es dann in Tripolis melden und die Hilfe den libyschen Seenotrettern überlassen. Gleichzeitig, so forderte Italien, sollen die zivilen Organisationen einen Verhaltenskodex unterschreiben, um die Rettungsaktionen besser zu regulieren. Dieser Kodex ist umstritten   und sieht unter anderem vor, dass bewaffnete Polizisten auf den Booten mitfahren und Menschen möglichst nicht von einem Rettungsschiff auf ein anderes, etwa größeres oder schnelleres, übergeben werden. Während die wenigsten Hilfsorganisationen zusagten, Italien auf diese Weise zu unterstützen, weigern sich viele zu unterschreiben, weil sie sich in ihrer Arbeit behindert sehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass es zum Konflikt zwischen der libyschen Küstenwache und den Crews ziviler Rettungsschiffe kommt

Kurz nach dem Anruf aus Rom sehen Crewmitglieder der Sea-Watch 2 das Boot der libyschen Küstenwache am Horizont. Es fährt schnell und mit Kurs auf ihr Schiff. Der Kapitän versucht laut eigenen Angaben, die Libyer über Funk zu erreichen, er will Unterstützung bei der Rettung anbieten. Er erhält, so sagt er, keine Antwort. Stattdessen rast das libysche Schiff weiter auf die langsam fahrende Sea-Watch 2 zu und fährt schließlich nur wenige Meter vor dessen Bug vorbei.

Der deutsche Kapitän erklärt später, dass er nicht ausweichen konnte, weil er gerade mit dem Kran das zweite Schnellboot ins Wasser ließ. Der libysche Kapitän hingegen betont, die Sea-Watch 2 sei nicht von ihrem Kurs abgewichen, um ihn so daran zu hindern, die Flüchtlinge nach Libyen zu bringen.

Es ist nicht das erste Mal, dass es zum Konflikt zwischen der libyschen Küstenwache und den Crews ziviler Rettungsschiffe kommt. In den Berichten der europäischen Seenotretter wirkt die libysche Küstenwache wenig kooperativ. Videos zeigen, dass manche Männer auf Konfrontation aus sind – als sei ihnen deren Leben und Wohlergehen egal. Umgekehrt werfen Sprecher der libyschen Küstenwache den zivilen Rettern vor, sie würden ihre Arbeit behindern – und sie böten einen Taxi-Service für die Flüchtenden.

Mitarbeiter der Organisationen SOS MEDITERRANEE und Jugend Rettet berichten, libysche Küstenwächter hätten am 23. Mai eine Rettungsaktion massiv gestört. Demnach halfen Crewmitglieder gerade einigen Menschen aus einem kaputten Schlauchboot, als die Libyer in die Luft schossen. Mitarbeiter von Sea-Watch wiederum beobachteten im Oktober, wie die libysche Küstenwache ein überladenes Schlauchboot rammte und so schwer beschädigte, dass mehrere Menschen ins Wasser fielen, einige ertranken. Auch von diesem Ereignis gibt es Videoaufnahmen, gefilmt von Bord der Sea-Watch 2.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag prüft derzeit, ob er  ein Ermittlungsverfahren gegen die libysche Küstenwache einleiten soll

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag prüft derzeit, ob er aufgrund dieser Schilderungen ein Ermittlungsverfahren gegen die libysche Küstenwache einleiten soll. Die Libyer haben dazu keine Stellung bezogen, auf ihrer Facebook-Seite stellen sie sich selbst ausschließlich als Retter dar. Auf diese Vorfälle angesprochen, erwidert EU-Sprecherin Federica Mogherini, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitk der EU, dass ihr keine direkten Informationen über den Fall vorliegen, aber die Menschenrechtskomponente bei der Ausbildung der libyschen Küstenwache eine große Rolle spiele.

Auch am Morgen des 10. Mai, so wird auf dem Videomaterial von SPIEGEL TV deutlich, befiehlt der libysche Kapitän den Flüchtenden, den Motor auszumachen. Als das Boot trotzdem weiterfährt, zieht er eine Pistole und zielt auf die Menschen – diesmal schießt er nicht.

Die libyschen Küstenwächter gehörten zum Teil gar nicht der Einheitsregierung an, mit der die EU kooperiert, sondern Milizen, von denen manche mit Schleppern gemeinsame Sache machten, sagt die italienische Journalistin Nancy Porsia, die seit Jahren in Libyen recherchiert. Laut einem im Juni veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen hat die libysche Einheitsregierung große Probleme, ihre Autorität durchzusetzen: Milizen, die sich oft mit Menschenschmuggel finanzieren, hätten Mandate für Regierungsaufgaben erhalten, handelten aber eigenmächtig.

Die Lage in Libyen ist schon lange unübersichtlich. Die Einheitsregierung kontrolliert nur einen kleinen Teil des Landes

Die Lage in Libyen ist schon lange unübersichtlich. Die Einheitsregierung kontrolliert nur einen kleinen Teil des Landes. Es gibt zwei weitere halboffizielle Regierungen und hunderte Milizen, von denen sich einige zum sogenannten Islamischen Staat bekennen.

Klar ist, dass es in dem Land gefährlich ist. Im UN-Bericht heißt es, Entführungen, willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen seien an der Tagesordnung, Migranten würden monatelang in überfüllten Gefängnissen festgehalten, verprügelt, Frauen vergewaltigt.

Als der libysche Kapitän am 10. Mai die Pistole entsichert, schaltet der Mann am Steuer den Motor aus. Zwei Mitarbeiter der libyschen Küstenwache springen auf das Holzboot und schubsen die gut 300 Passagiere auf das libysche Schiff. Als die Flüchtenden erfahren, dass sie zurück nach Libyen in ein Auffanglager gebracht werden, reagieren die Männer fassungslos. Frauen fangen an zu weinen.

Titelbild: TAHA JAWASHI/AFP/Getty Images