Liebender Vater, fürsorglicher Ehemann, in jeder Hinsicht normal. Zu diesem Ergebnis kommt ein psychologisches Gutachten, das den Geisteszustand des US-Soldaten Ivan „Chip“ Frederick einschätzen soll. Frederick hat drei Monate lang als Wärter in Abu Ghraib gearbeitet, dem Gefängnis im Westen von Bagdad, in dem Saddam Hussein politische Gefangene foltern ließ und in dem amerikanische Geheimdienste seit der Invasion im Irak Terrorverdächtige festhalten. Ein Jahr später steht er vor Gericht.„Ich bin kein Sadist“, sagt Frederick während der Vorverhandlung. Und doch hat er Gefangene misshandelt und gedemütigt, hat sie gezwungen, vor den Augen der Mitgefangenen zu masturbieren, Oralsex zu simulieren, sich nackt übereinander zu legen und eine Pyramide zu bilden. 

Wie kann es sein ,dass ein unauffälliger ,normaler Mensch dazu fähig ist? Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo,der Frederick interviewte und das Gerichtsgutachten erstellte, behauptet, dass nicht die persönlichen Eigenschaften der Täter die Hauptursache für die Eskalation von Gewaltakten und Erniedrigungen waren, sondern die anarchischen Zustände in Abu Ghraib. Die Verwahrlosung. Der Dreck. Die Langeweile. Die Angst vor einem Aufstand. Die Abwesenheit von Regeln und Kontrolle.„In einem Essigfass kann man keine süße Gurke sein“, sagt Zimbardo. Man verwandele sich automatisch in eine saure Gurke. Der inzwischen emeritierte Stanford-Professor hat sich jahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, warum Menschen unmoralisch handeln.

„Die Psychologie des Bösen“ nennt er sein Forschungsgebiet. Um das menschliche Verhalten unter den Bedingungen von Gefangenschaft zu untersuchen, führte er bereits 1971 das Stanford Prison Experiment durch – und zeigte, wie einfach es ist, Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, von denen sie behaupten, dass sie sie niemals tun würden. Im Keller der psychologischen Fakultät seiner Uni simulierte Zimbardos Team ein Gefängnis. 24 Testpersonen, alles Studenten aus Palo Alto, darunter erklärte Bürgerrechtler und Pazifisten, wurden willkürlich in Häftlinge und Aufseher unterteilt. Die Wärter bekamen Schlagstöcke und Sonnenbrillen, die Gefangenen mussten Fußketten und Kittel ohne Unterwäsche tragen. Ihre Köpfe wurden kahl rasiert und anstelle ihres Namens bekamen sie eine Nummer verpasst.

Ohne weitere Vorschriften wurden die beiden Gruppen sich selbst überlassen. Nach 36 Stunden hatte der erste Häftling einen Nervenzusammenbruch, weil der Stress zu groß wurde. Nach zwei Tagen brach ein Aufstand aus. Nach sechs Tagen war das Experiment völlig außer Kontrolle geraten und musste abgebrochen werden. Die Wärter hatten angefangen, die Häftlinge sexuell zu erniedrigen und zu quälen. Parallelen zwischen den Ereignissen im Keller der Stanford-Universität und Vorfällen in Abu Ghraib sind auffällig: In beiden Situationen nahmen die Wärter die Gefangenen nicht mehr als Individuen, sondern als anonyme Objekte wahr. Sie waren nicht darauf trainiert, eine so schwierige Aufgabe zu bewältigen .Sie wurden kaum überwacht und mussten für ihr Verhalten keine Rechenschaft ablegen. 

Unter solchen Voraussetzungen sind Exzesse programmiert.„Für jemanden, der sich noch nie etwas hat zu Schulden kommen lassen, ist es komfortabel zu glauben, dass nur die anderen zu Grausamkeiten fähig sind“, sagt Zimbardo. „Doch dieses Gefühl der moralischen Überlegenheit ist eine Illusion. So gut wie jeder, der mit derart extremen Umständen konfrontiert wird, würde sich ähnlich verhalten.“ Folgt man Zimbardos Ergebnissen, ist das Handeln eines Menschen nicht von seinen moralischen Prinzipien abhängig, sondern von der Situation, in der er sich befindet. 

Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung war der Sozialpsychologe Stanley Milgram bereits Anfang der sechziger Jahre an der Yale University in New Haven gekommen. Bei dem nach ihm benannten Experiment wird den Testpersonen erklärt, dass es darum gehe, den Zusammenhang von Lernerfolg und Bestrafung zu untersuchen. Das Los bestimmt einen Lehrer und einen Schüler. Unter Aufsicht eines Wissenschaftlers verpasst der Lehrer dem Schüler einen Stromschlag zwischen 15 und 450 Volt, wenn dieser seine Aufgabe nicht lösen kann. Bei jedem Fehler soll der Lehrer die Spannung um 15 Volt erhöhen. Tatsächlich handelt es sich beim Schüler jedoch um einen Schauspieler, der bald beginnt, Schmerzen zu simulieren. Wahres Ziel des Experiments ist es zu testen, wie hoch die Bereitschaft von Menschen ist, Anweisungen zu folgen und einen Unbekannten zu quälen, auch wenn das Gewissen dagegen rebelliert. Zögert der Lehrer, die Spannung zu erhöhen, wird er vom Versuchsleiter zum Weitermachen aufgefordert – er habe keine andere Wahl. 

Im Gegensatz zum Stanford Prison Experiment führt beim Milgram Experiment nicht das Fehlen von Kontrolle zu unmoralischen Handlungen, sondern der Druck einer Autorität. Der Versuch wird in etwa vierzig Ländern wiederholt. Die Ergebnisse sind überall die gleichen: Unabhängig von Alter, Bildung und Geschlecht bringen zwei Drittel aller Versuchspersonen den Versuch zu Ende und verpassen dem Schüler tödliche Stromschläge – auch wenn dieser um den Abbruch des Versuches bettelt, vor Schmerzen schreit oder gar nicht mehr auf Fragen reagiert. Den Lehrern reicht die Begründung, sie handelten im Dienste der Wissenschaft und jemand anderes übernehme die Verantwortung.„Früher habe ich mich gefragt, ob man in den ganzen USA genug moralische Dummköpfe finden könnte, um den Personalbedarf für ein nationales System an Konzentrationslagern zu decken, wie es dies in Deutschland gegeben hat“, schrieb Milgram nach Abschluss der ersten Versuchsreihe.„Jetzt glaube ich langsam, dass die ganze Belegschaft in New Haven allein rekrutiert werden könnte.“