Einst gehörte der Wald den Königen. Sie hielten sich dort aber nur auf, wenn sie ihre Hirsche jagten. Die übrige Zeit passten Förster auf, dass die Wilderei nicht überhand nahm, viel mehr konnten sie nicht tun. Das ist mit ein Grund, warum der dunkle Wald zu den Freiheitsmythen gehört.

In diesen Zusammenhang kann man die Ideen des Juraprofessors und Cyberspace-Experten Lawrence Lessig stellen. Unsere heutige Musik-, Literatur- und Filmkultur ist ein solcher Wald, eine Art Wildnis inmitten unserer modernen Welt, die zwar überwacht und reguliert wird, aber nicht völlig kontrolliert werden kann.

Lessig, tätig an der Stanford-Universität, ist besorgt um die traditionellen Freiheiten des kulturellen Austauschs. In seinen Vorträgen spricht er über Urheberrechte, öffentliches Kulturgut und über weit verbreitete Techniken wie Remixing, Sampling oder das Brennen von MP3s. Lessig redet über das globale Netz, in dem wir - ob nun zum Guten oder Schlechten - immer mehr Zeit verbringen und uns digital verstricken.

Er beschreibt dabei, wie eine neue demokratische Kultur entsteht, die der Konsumkultur des 20. Jahrhunderts langsam den Rücken kehrt. Aus Couchpotatoes werden Kulturproduzenten: Früher schickten nur einige wenige Sender ihre Informationen an passive Konsumenten, die zu Hause vor ihren Fernsehern saßen. Heute gestattet die Struktur vernetzter Personalcomputer eine Kommunikation auf gleicher Augenhöhe und ermöglicht so den früheren Empfängern nicht nur, sich alles Mögliche runterzuladen, sondern auch, es zu remixen und anschließend wieder in die Welt zu senden. Bislang war die Industrie eine treibende Kraft dieser Entwicklung, indem sie Personalcomputer und CD-Brenner preisgünstig auf den Markt brachte. Doch jetzt scheint der enorme Erfolg dieser "freien Kultur" ein Klima der Angst bei den "Königen der Einbahnstraßen-Kultur" erzeugt zu haben. Sie fürchten um die Möglichkeit, den globalen Austausch weiter in ihrem Sinne zu dirigieren. Einst hat die Kulturindustrie, also die Plattenfirmen und die Filmkonzerne, bis dahin nur mündlich übertragene Werke der Populärkultur aufgegriffen und daraus Schallplatten und Filme gemacht, Produkte, die man kaufen und weiterverkaufen konnte - nicht unähnlich dem Großwild im Wald. Aber mit der Entwicklung billiger CDs, die den Weg für unabhängige Musikproduktionen öffneten, und den MP3s, die eine Kompression von Musikdaten und deren kostenlose Verbreitung im Netz ermöglichten, sind diesem Wild plötzlich Flügel gewachsen. Anders gesagt: Die Kultur ist wieder immateriell geworden.

Lessig zufolge hat das Raubkopieren, das heißt der Missbrauch digitaler Privatkopien, den "Königen" der Kulturindustrie einen handfesten Vorwand geliefert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um diese "neue Freiheit" zu beschneiden, um ihre Waldreviere zu kontrollieren und zu schützen. Ihre Besitzansprüche leiten sie von den Urheberrechten ab, die ihnen die Möglichkeit einräumen, das von ihnen erworbene geistige Eigentum kommerziell auszuwerten: Anfänglich galt ein Urheberschutz auf geistiges Eigentum in den USA nur für 14 Jahre (mit Option auf eine einmalige Verlängerung). Amerikanische Gerichte räumten ihm jedoch, auf Betreiben der Industrie, eine immer längere Dauer ein: Heute gelten Copyrights länger als lebenslänglich, sie überdauern den Tod des Autors um siebzig Jahre.

Lessig meint, dass diese lange Dauer nicht Anreize für neue Ideen oder Bücher schafft, sondern lediglich den Großgrundbesitz der Kulturmächtigen aufstockt. Wer meint, dass die Beschränkungen durch das Copyright doch kein Hindernis sind, weil es so leicht sei, im Netz zu wildern, der irrt Lessigs Ansicht nach. Er meint, dass die Antiraubkopier-Techniken, auch "Digital Rights Management" genannt, kurz davor stehen, das Anfertigen von privaten Raubkopien unmöglich zu machen. Man könnte das Kopieren einer Idee auch als etwas betrachten, das den Wirkungskreis eines Werkes ausdehnt und den Urhebern eher nützt als schadet. Aber die Kulturindustrie sieht darin nur eine Verletzung ihrer Copyrights und ihres Vertriebsmonopols, das heißt eines digitalen Marktes, der letztlich bis in den Kopf des lesenden Menschen reicht. "In den oberen Etagen, wo Entscheidungen getroffen werden, gibt es keine Diskussion mehr darüber, ob man diese Systeme einführen soll", meint Lessig. "Es gibt nur eine kleine Randgruppe von Leuten wie mich, die sich noch fragen: Wollen wir dieses Zeug überhaupt?"

Bei der Beschreibung seiner Gegenstrategie nimmt Lessig einen Gedanken Kurt Vonneguts auf: "Dessen Geschichte über Eis 9 handelt von einem bestimmten Wasserisotop, das den Gefrierpunkt von Wasser von null Grad auf Zimmertemperatur verschiebt. Mit nur einem Isotop, das man in ein riesiges Wasserbecken gibt, lässt sich der Gefrierpunkt bereits ändern." Daraufhin spricht Lessig über sein von ihm 2001 begründetes System alternativer Lizensierung: "creative commons", was so viel wie "Gemeineigentum" bedeutet. Bislang hat sich dieses System schon in mehr als dreißig Ländern etabliert. Seiner Ansicht nach könnten damit Künstler in Zukunft eine geschützte freie Kulturzone schaffen. Anfänglich wurde seine Idee hauptsächlich von Schriftsteller/innen und Wissenschaftler/innen aufgegriffen. Aber im vergangenen Jahr gab Lessig zusammen mit dem Wired Magazineerstmals eine CD heraus, die von bekannten Musikern wie etwa David Byrne, Gilberto Gil, den Beastie Boys und Spoon bespielt wurde. Da die Knebeltechnologie des Digital Rights Management nur bei den heute gängigen Copyright-Verträgen angewendet werden kann, gibt Lessigs Alternativsystem den Künstlern die Möglichkeit, sich stattdessen auch für eine freie Zone zu entscheiden, wo ihr Publikum sich wie bisher Privatkopien ziehen und das Material remixen kann. "Wir wollen die von uns lizenzierten kreativen Produkte mit der Freiheit verklammern", sagt Lessig.

Für den amerikanischen Verfassungsrechtler Lessig erscheint es als eine Ironie der Geschichte, wie die derzeitige Rechtsprechung an den US-Gerichten auf die urheberrechtlichen Traditionen der alteuropäischen Monarchien zurückgreift: Das Gewähren von langfristigen Urheberrechten seitens der Imperialmächte Großbritannien und Frankreich war eng verknüpft mit der gleichzeitigen Einrichtung einer Zensur. Genau das ist es, was man vielleicht am meisten zu fürchten hat bei den aktuellen Bestrebungen, den letzten wilden Bereich in der modernen Welt zentralistisch zu kontrollieren. In einer Zukunft, die Privatkopien verbietet, lauert die Zensur. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die weder schön singen noch tolle Cartoons zeichnen können. Ihnen wird die digitale Freiheit geraubt, Musik zu sampeln oder Politikerauftritte in satirischer Absicht zu mixen. In den alten Monarchien Europas konnten die Soldaten des Königs für eine Hausdurchsuchung einfach die Türen eintreten. Die Väter der amerikanischen Verfassung legten großen Wert auf die Unverletzlichkeit der Privatsphäre: Die Schwellen der Türen durften nur mit richterlicher Erlaubnis überschritten werden. Noch im 20. Jahrhundert haben amerikanische Richter dafür gesorgt, dass die Polizei keine privaten Telefongespräche abhören durfte - sie retteten damit die alten Naturrechte in das neue technologische Zeitalter hinüber. Doch inzwischen wird der Geist der alten Gesetze immer mehr ignoriert. Im kreativen Bereich, der letzten Wildnis der Moderne, sollten wir das Recht auf die Privatkopie als eine Tür begreifen. Eine Tür zwischen der Außenwelt, die immer noch von den Gesetzen des Königs reguliert wird, und der persönlichen geistigen Autonomie. Die Privatkopie hat wie eine Tür eine äußere Seite, die zur Welt mit ihren Traumfabriken von Hollywood bis Bollywood gehört. Aber es gibt auch eine innere Seite, die nur uns gehört, uns als Individuen ebenso wie als kulturschaffendem Kollektiv. Wenn diese Grenze nicht respektiert wird, könnten wir in eine Welt geraten, in der das digitale Kontrollsystem bis zu unseren Traumbildern greift und nach unseren gedachten Worten. Das Internet, von Lessig ein "träumender Postbote" genannt, würde nichts davon merken. Und wir?

Anjana Shrivastava lebt in Berlin und schreibt unter anderem für das Wall Street Journal Europe, die Netzeitung und den norwegischen Mandag Morgen.