Vor meinem ersten Schultag durfte ich mir eine Schultüte aussuchen. Ich konnte mein Glück kaum fassen und wählte die lilafarbene mit einer kleinen Schwarz-Weiß-Zeichnung von einem Mädchen mit Schultüte. Seltsam, oder? Aus irgendeinem Grund war ich davon ausgegangen, dass wir keine Schultüten haben durften. Genauso wie wir keinen Weihnachtsbaum schmückten, keine Wiener Würstchen aßen und nicht bei Freundinnen übernachteten. Dieses Wir bestand manchmal nur aus mir, manchmal noch zusätzlich aus meinen Eltern und meinem kleinen Bruder. Wir lebten immer ein bisschen anders als die 5.000 anderen Menschen in dem süddeutschen Dorf, in dem ich aufwuchs. Wir waren nämlich die einzige türkische Familie.

Wir durften auf keinen Fall auffallen

Dass wir anders waren, hängten meine Eltern aber nie an die große Glocke. Ganz unauffällig ließen sie das Holzkreuz, das ich zu Ostern im Kindergarten gebastelt hatte, verschwinden. Im Stillen verabredeten sie mit den Lehrern, dass ich nicht am Religionsunterricht teilnehmen würde. Doch abgesehen von diesen wenigen Details sollten wir eine ganz normale Familie sein und ich deren ganz normale Tochter. Das heißt: Wir durften auf keinen Fall auffallen.

Ich bin in den 1990er-Jahren aufgewachsen, in einer Zeit, in der Neonazis schon mal von Ausländern bewohnte Mehrfamilienhäuser in Brand steckten. Der NSU hat sich zu dieser Zeit formiert, um jahrelang unbemerkt durch Deutschland zu ziehen und ab 2000 kaltblütig Migranten zu ermorden. Dass meine Eltern nicht anecken wollten, war also eine notwendige Maßnahme zum Selbstschutz. Aber es ging noch um mehr. Sie wollten mir Dinge ermöglichen, die sie selbst nicht hatten: Bildung, deutsche Freunde, die Aussicht auf eine erfolgreiche Karriere. Ich bin die Erste in meiner Familie, die in Deutschland geboren ist. Somit gehöre ich zu der sogenannten „dritten Generation“. Meine Großväter waren Anfang der 1970er-Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, ihre Frauen und Kinder zogen erst zehn Jahre später nach. Meine Eltern waren Teenager, als sie kamen, und haben hier, wenn überhaupt, nur wenige Monate die Schule besucht. Mein Vater begann schon sehr früh, im Schichtbetrieb einer Fabrik zu arbeiten. Irgendwann lernte er meine Mutter kennen, sie heirateten, dann kam ich auf die Welt – und wurde zum persönlichen Integrationsprojekt der beiden.

„Du musst doppelt so viel lernen wie die anderen Kinder!“ Dieser Satz wird vielen aus meiner Generation bekannt vorkommen. Er steht für die hohen Erwartungen, die unsere Eltern an uns hatten. Und er steht dafür, dass unsere Eltern sehr wohl wussten, dass es nicht leicht für uns werden würde. Für meine Mutter war es ganz selbstverständlich, dass deutsche Kinder allein für ihre Anwesenheit im Unterricht mit guten Noten belohnt wurden. Ich aber musste glänzen, mit außergewöhnlichem Wissen, den originellsten Aufsätzen und einer zusätzlichen Französisch-AG.

 

Mein erstes Referat drehte sich um die Türkei und wurde komplett von meinem Vater verfasst

Der Ehrgeiz meiner Eltern ging so weit, dass sie, wann immer es ihnen zeitlich und inhaltlich möglich war, meine Hausaufgaben erledigten (was nicht oft vorkam, weil sie beide Vollzeit berufstätig waren, aber immerhin). Mein erstes Referat drehte sich um die Türkei und wurde komplett von meinem Vater verfasst. Ich verstand die Hälfte nicht, aber meine Lehrerin war so stolz, dass sie der Rektorin davon erzählte, die mich im Anschluss öffentlich dafür lobte.

Zur Enttäuschung meiner Eltern war ich aber von Natur aus kein besonders fleißiges Kind. Ich „vergaß“ oft meine Hausaufgaben, täuschte in Mathe Kopfschmerzen vor, damit ich an die frische Luft durfte, und tauchte oft in Tagträume ab, in denen ich mit der Anime-Figur Mila Superstar Volleyball spielte.

Zu den schlimmsten Momenten meines Lebens gehörten die Abendstunden, die auf sogenannte Elternsprechtage folgten. Weil dann die Wahrheit ans Licht kam. „Faul“, „frech“, „lenkt die anderen Kinder ab“ waren die Phrasen, die meine Eltern am häufigsten von Lehrern über mich zu hören bekamen. Gedemütigt kamen sie nach Hause. „Willst du etwa, dass die denken, Türken wären faul und dumm?“, fragten sie mich. Alles, was ich tat, war symbolisch für eine gesamte Bevölkerungsgruppe. Als eine der wenigen Türkinnen, die es aufs Gymnasium geschafft hatte, stand ich repräsentativ für alle, die dort nicht waren. Ich bekam Hausarrest und durfte eine Woche lang nichts mehr tun, was irgendwie Spaß machte.

Als ich 15 war, gingen meine Eltern immer noch zu diesen Sprechtagen. Die Kommentare hatten sich inzwischen in „respektlos“, „keine Disziplin“, „raucht heimlich auf der Toilette“ verwandelt. Ich wollte mich nicht mehr unauffällig verhalten oder anpassen. Mein Name und mein Aussehen sorgten sowieso dafür, dass ich in der Schule benachteiligt wurde. Wieso sollte ich also in der Ecke sitzen und schmollen? Ich spielte die gefährliche Ausländerin und beschimpfte meine Mitschüler als Kartoffeln. Als ich einer offenkundig rassistischen Lehrerin ins Gesicht brüllte, dass sie rassistisch sei, bestellte sie meine Eltern ein. Sie erklärte ihnen, dass ich Verhaltensstörungen aufwies und besser auf einer Förderschule aufgehoben sei. Langsam gingen meiner Mutter die Ideen aus, was sie mir noch verbieten konnte. Dann durfte ich nicht mehr im Schultheaterensemble mitspielen. Ich bezweifle, dass diese Maßnahme pädagogisch wertvoll war – aber sie traf mich hart. Noch schlimmer aber: Es waren meine Eltern, die mir erklärt hatten, was institutioneller Rassismus ist. Und ironischerweise waren es meine Eltern, die mich dafür bestraften, dass ich versuchte, mich dagegen zu wehren.

Der große Unterschied: Wir sind in Deutschland geboren 

Heute kann ich sie besser verstehen. Weil ich mehr über die Umstände weiß, unter denen sie nach Deutschland kamen. Dass sie und meine Großeltern als temporäre Arbeitskräfte galten, die die deutsche Wirtschaft ankurbeln und sich danach wieder aus dem Staub machen sollten. Sie sahen es als Privileg, langfristig hierbleiben zu dürfen, nicht als ihr Recht. Und wahrscheinlich ist das der große Unterschied zu uns, der dritten Generation: Wir sind in Deutschland geboren und wollen als gleichberechtigte Mitbürger und Mitbürgerinnen behandelt werden. Und wenn uns was nicht passt, dann schreien wir auf.

Fatma Aydemir (31) hat mit „Ellbogen“ in diesem Jahr einen viel besprochenen Roman geschrieben. Er handelt von drei Freundinnen mit Migrationshintergrund, deren Frust in einer Gewalttat mündet.

Illustration: Gregory Gilbert-Lodge