Ein „innerer Reichsparteitag“ dürfte für Miroslav Klose sein entscheidender Treffer gewesen sein, mutmaßte die ZDF-Fernsehmoderatorin Katrin Müller-Hohenstein nach einem Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft während der WM vor zwei Jahren – und löste so einen Sturm der Entrüstung aus. Was sei bloß in sie gefahren, dass sie die Zuschauer mit diesem Begriff aus der Nazizeit erschrecke, lautete der Tenor der Kritik – nur vereinzelt wurde darauf hingewiesen, dass die Menschen im Nationalsozialismus mit dem Spruch „Das ist mir ein innerer Reichsparteitag“ den Bombast der NSDAP-Parteitage nicht etwa bewundert, sondern ihn im Gegenteil persifliert haben. Auch über 60 Jahre nach Ende des Hitler-Regimes trifft die Frage, ob ein bestimmtes Wort Nazi-Sprache ist, ob es aufgrund der propagandistischen Verwendung durch die Nationalsozialisten sozusagen unaussprechlich geworden ist, einen empfindlichen Nerv der Gesellschaft. Man meint, eine harmlose Redewendung zu benutzen, da holt einen Deutschlands braune Vergangenheit ein. Von „Lebensraum“ über „Sonderbehandlung“ bis hin zu „ausmerzen“ können einem so einige Worte, die man nichts ahnend in den Mund nimmt, um die Ohren fliegen: Mit dem Schlagwort „Lebensraum“ begründete Hitler in seiner Hetzschrift „Mein Kampf“ die Notwendigkeit des Krieges. „Sonderbehandlung“ nutzte die SS als Tarnbezeichnung für die Ermordung von Menschen. Und der Ausdruck „Ausmerze“ war ein zentrales Konzeptwort der NS-Ideologie und des damit verbundenen Programms der „Ausrottung lebensunwerten Lebens“.

Dass Sprache schnell politisch und vor allem politisch unkorrekt sein kann, mussten auch schon einige Unternehmen schmerzlich erfahren. Mit den Worten „Jedem das Seine“ bewarb Nokia seine neuen Handys mit auswechselbaren Displays. Derselbe Claim wurde von Microsoft für die Werbung verwendet, von Tchibo, der Supermarktkette Rewe, Burger King und Ikea, wo man damit neue Vorhänge anpries. Anscheinend war sich in den Werbeabteilungen niemand darüber bewusst, dass die Redewendung „Jedem das Seine“ im Jahre 1937 ihre Unschuld verloren hatte. Die Worte standen am Tor zum Konzentrationslager Buchenwald. Die Lernkurve der Werbebranche in diesem Punkt verlief bemerkenswert flach. Auch in der politischen Debatte finden sich immer wieder Vokabeln aus der NS-Zeit, wobei die Empörung der politischen Gegenseite entsprechend laut ist: Eine unerträgliche Relativierung und Verharmlosung der NS-Verbrechen finde statt, eine Verhöhnung der Opfer.

Als „Auschwitz-Keule“ bezeichnet man das rhetorische Modell, beim politischen Gegner Nazi-Vokabeln aufzuspüren und sodann dessen Denkweise als naziähnlich zu diffamieren. Die Sprachwissenschaftler Thorsten Eitz und Georg Stötzel haben diesem Konflikt ein eigenes Buch gewidmet: das „Wörterbuch der ‚Vergangenheitsbewältigung‘“. Auf mehr als 700 Seiten sind da alle Wortgefechte rund um tatsächliche und vermeintliche Nazi-Begriffe verzeichnet, die in politischen Debatten der Bundesrepublik dank Parlamentsprotokollen und Presse nachzuweisen waren. Darunter auch Beispiele aus jüngster Zeit, wie etwa der Streit um den Begriff „Selektion“ im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik oder die Kontroversen um das Wort „Elite“, wenn es um die PISA-Studie und Bildungspolitik geht. Im Nationalsozialismus war die planmäßige Bildung einer gesellschaftlichen Elite die ideologische Kehrseite der „Ausmerze“ von als minderwertig betrachteten Bevölkerungsgruppen.

Auch wenn Politiker die Verwendung historisch kontaminierter Vokabeln im Nachhinein bedauern, drängt sich oft der Verdacht auf, dass sie die Wörter ganz bewusst gewählt haben, um Aufmerksamkeit zu bekommen. So wird das Wort „Holocaust“, das seit Ende der 70er- Jahre zur Bezeichnung des Genozids an den Juden geläufig ist, immer mal wieder zweckentfremdet: Als „Babycaust“ wurden bereits Abtreibungen denunziert, Neonazis setzen mit dem Wort „Bombenholocaust“ die Luftangriffe der Alliierten auf Dresden 1945 mit dem Massenmord des Hitler-Regimes an den Juden gleich. Dass sich Neonazis einer derart plumpen Provokation bedienen, wundert einen nicht. Dass aber auch Politiker aus dem gemäßigten Spektrum gelegentlich der Versuchung erliegen, ihre politischen Gegner mit Hitler oder anderen NSGrößen zu vergleichen, bezeichnen Stötzel und Eitz als eine „politisch-strategische Schizophrenie“. Eine Art Tick, der einen zwanghaft Wörter sagen lässt, die man eigentlich nicht sagen darf. Gerade weil in Deutschland eine Art Konsens darüber besteht, dass die betreffenden Geschichtsereignisse, Personen und Institutionen einzigartig, einmalig und unvergleichbar waren, dient der Nazi-Begriff hier als Argumentationsersatz und Aufmerksamkeitsbeschleuniger.

Doch was darf man noch sagen? Und wäre es nicht ein später Triumph der Nazis, wenn man Wörter nur deshalb nicht mehr benutzte, weil sie von Nationalsozialisten inflationär gebraucht wurden? Die vielen Superlative oder Kraftworte wie „gigantisch“, „total“, und „ungeheuer“. Modernitätsnachweise durch Bilder aus der Elektrotechnik wie „Anschluss“ und „Gleichschaltung“. Ausdrücke wie „Endlösung“ als Beschönigungen für mörderische Verbrechen. Sakrale Wendungen wie „Heil“ und „ewig“ oder auch mythologische wie „heldenhaft“. „Instinkt“ statt „Intellekt“. Biologische Metaphern wie „Ratten“ und „Parasiten“ sowie die entsprechenden Allegorien aus der Schädlingsbekämpfung: „Ausmerze“. Was darf man noch sagen, wenn jedes Wort, das einmal von einem Nazi in den Mund genommen wurde, nur noch Würgereiz auslöst?

Es gilt wohl, den Einzelfall zu betrachten und öfter mal innezuhalten bei dem, was man so sagt. So ist das Wort „Reichskristallnacht“ für die Schrecken des 9.11.1938, als Synagogen und jüdische Läden zerstört wurden, ein recht durchschaubarer Euphemismus, für den sich mittlerweile der treffendere Begriff „Reichspogromnacht“ eingebürgert hat. „Tabuisierungen einzelner Wörter helfen wenig“, sagt Stötzel. „Notwendig ist geschärftes Sprachbewusstsein und eine kritische Auseinandersetzung mit den Intentionen der Sprecher, die NS-Vokabular verwenden.“ Es hilft also nichts, der unbekümmerten Weiterverwendung von Nazismen als eine Art Grammatik-Hitler zu begegnen, der die NS-Sprache fanatisch tilgen will. Der Satiriker Wiglaf Droste nannte dies einst die „Kreuzberger Faustkeilregel: Wer zuerst Fascho sagt, hat gewonnen.“