Monatelang hatten sie ihren Plan ausgeheckt, hatten Fluchtrouten ausgearbeitet und wieder verworfen, hatten davon geträumt, wie es sein könnte – das Leben in einem Land ohne Grenzzäune und Todesstreifen. In einem Land, das einem jungen Menschen mehr zu bieten hat als die DDR. Und dann waren sie eines Tages aufgebrochen, mitten in der Nacht: die Brüder Jürgen und Roberto und ein Freund, alle Mitte 20. Am 3. März 1984 morgens um drei ging es los, von Steinach aus, einem kleinen Ort in Thüringen. Sie verabschiedeten sich von ihren Frauen und machten sich auf in die Dunkelheit und Kälte.

Außerhalb des Ortes schnallten sie ihre Langlaufski an, glitten lautlos den Berg hinunter, dann quer durch den tief verschneiten Fichtenwald. Nach 15 Kilometern kamen sie auf eine Lichtung, über die sich ein Signalzaun zog, eine der eigentlichen Grenze vorgelagerte Sicherungsanlage, die bei der geringsten Berührung der Drähte Alarm auslöste. Sie versteckten sich in einer Schneekuhle, beobachteten die Grenzstreife und bauten schließlich eine Leiter aus jungen Fichtenstämmen. Über zehn Stunden verbrachten sie in der Kälte. Als es wieder dunkel wurde, trugen sie die Stehleiter an den Zaun und kletterten einer nach dem anderen hinüber.

Alles blieb ruhig. Bis zur eigentlichen Grenze waren es noch zwei Kilometer, ein Minenfeld, begrenzt von zwei Metallzäunen. Sie hofften, dass der alte Schnee den Druck ihrer Schritte auf dem Minenfeld dämpfen würde und sie unversehrt auf die andere Seite kämen. Kurz nach 21 Uhr waren sie im Westen. Tettau hieß der bayerische Grenzort, in dem sie erschöpft an eine Haustür klopften. Es folgten Bahnhofsmission, Notaufnahme- und Durchgangslager, Befragungen durch die Polizei und die Amerikaner in Nürnberg. Irgendwann ging es nach Mainz, dahin, wo die Mutter von Jürgen und Roberto geboren war und ihre Verwandtschaft lebte.

Am 4. März 1984 steht Helga Resch in ihrer Küche und macht Klöße und Hirschbraten für ihre Söhne, die zu diesem Zeitpunkt längst im Westen sind. Wenig später steht die Volkspolizei vor der Tür. Helga Resch und ihr Mann werden bis spätabends verhört, gedemütigt, mit Lügen konfrontiert, eingeschüchtert. Sie sollen in den Westen fahren und ihre Söhne zurückholen. Auch die Frauen der Flüchtlinge werden in Sonneberg verhört: Kerstin und Susanne Resch hatten selbst die Polizei informiert, denn das war der Plan: so zu tun, als sei man nicht eingeweiht gewesen, um dann die Ausreise zu beantragen und den Männern hinterherzureisen. Aber die Staatssicherheit glaubt ihnen nicht, die Verhöre dauern die ganze Nacht. Immer wieder die gleichen Fragen. Als die Stasi droht, ihr ihren Sohn David wegzunehmen, kann Kerstin Resch dem Druck nicht mehr standhalten. Sie gesteht, dass die Frauen von der Flucht der Männer wussten. Schließlich werden sie zu jeweils 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Da liegen bereits sechs Wochen Untersuchungshaft in Suhl hinter ihnen – unter schlimmsten Bedingungen. Nur Kerstin Resch wird auf Bewährung entlassen und darf zurück nach Hause zu ihrem Sohn. Die Informationen aus dem Osten kommen kaum im Westen an. An den Männern, die eben noch glücklich über ihre gelungene Flucht waren, nagt die Ungewissheit: Wann können ihre Frauen nachkommen? Ist der Plan aufgegangen? Jürgen Resch fragt sich zudem, ob seine Frau überhaupt noch zu ihm will. Ihre Beziehung war in der letzten Zeit nicht die beste, außerdem hat er Gerüchte gehört, dass Kerstin einen neuen Mann hat. Ist es wahr, dass sie sich scheiden lassen will und ihren Ausreiseantrag zurückgezogen hat? Irgendwann hält Jürgen Resch die Unsicherheit nicht mehr aus: Er muss zurück, um sich mit Kerstin auszusprechen, er muss wieder über die tödliche Grenze – dieses Mal vom Westen in den Osten.

Mittlerweile ist es Sommer, kein Schnee schützt ihn vor den Minen. Stattdessen wirft Jürgen Resch vor jedem Schritt einen Stein auf den Boden und springt dann genau dorthin, wo er gelandet ist. Dann läuft er durch den Wald bis zum Grenzsignalzaun; zweieinhalb Meter hoch, Betonsäulen in regelmäßigen Abständen, dazwischen die Alarmdrähte. Keine Holzleiter, kein Bruder, kein Freund. Er greift zwischen die Drähte, krallt sich an einer der Säulen fest, arbeitet sich Stück für Stück nach oben. Dann erreicht er den sogenannten Abweiser – einen in Richtung Osten geneigten Stacheldraht, der nicht unter Spannung steht –, klettert drüber und springt auf die andere Seite, hinein in die DDR. Hinein in sein altes Leben.

Tatsächlich informierte Kerstin Resch die Behörden über die Rückkehr ihres Mannes – zumindest geht das nach der Wende aus den Akten der Stasi hervor. Längst hatte sie ihren Ausreiseantrag zurückgezogen und der Scheidung zugestimmt. Seit ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft hatte sie zudem regelmäßig mit der Stasi sprechen müssen. Aber auch die Grenztruppen der DDR hatten die illegale Einreise von Jürgen Resch anhand der Fußspuren bereits entdeckt, bevor er sein Haus erreichte. „Jürgen ist den Weg, den er damals abgehauen ist, auch wieder zurück. Genau das war sein Fehler, dadurch sind die ihm wohl auf die Spur gekommen“, sagte Kerstin Resch später der Journalistin Heike Otto, die für ein Buch über den Fall recherchierte.Gegen Mitternacht erreicht er das Haus in Steinach. Eigentlich will er sofort weiter – mit seiner Frau und seinem Sohn zur Botschaft der BRD in Ostberlin, damit sie alle in Sicherheit sind. Aber Kerstin will erst mal reden. Zwei Nächte und einen Tag versteckt er sich bei ihr, sie sprechen über ihre Ehe, über die Fehler, die er gemacht hat, über den anderen Mann, über ihre Zukunft hier oder im Westen. Dann steht plötzlich die Stasi vor der Tür. Jürgen Resch wird mitgenommen und später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, von der er eineinhalb Jahre absitzt. Er ist sich sicher, von seiner Frau verraten worden zu sein. „Die Typen waren sich so sicher, dass ich hier irgendwo stecke“, sagt er später.

„Für sie war es wohl die sauberste Lösung. Wenn Jürgen nicht zurückgekommen und die Grenze nicht aufgegangen wäre, dann hätte sie den nie wiedergesehen. Einfach tschüss und weg.“ Das sagt Susanne, Kerstins ehemalige Schwägerin und damals beste Freundin. „Eine Trennung ohne Zoff und Zirkus. Ohne Gewalt, ohne Jähzorn, ohne Szenen.“ Für ihre Inhaftierung macht Susanne Kerstin Resch nicht verantwortlich. Bewältigt hat sie ihre Erlebnisse bis heute nicht, sie leidet unter Albträumen und Platzangst. Das Frauengefängnis Hoheneck war bekannt für seine unmenschlichen Haftbedingungen. Die Häftlinge bekamen Hormone, die den weiblichen Zyklus und die Psyche beeinflussten.

Jürgen und Kerstin Resch haben sich nach seiner Verhaftung nur noch einmal gesehen. Am Tag seiner Gerichtsverhandlung im September 1984. Keiner in der Familie Resch hat in all den Jahren über die Erlebnisse gesprochen – auch nicht nach dem Fall der Mauer 1989. Sie konnten nicht miteinander reden und auch nicht mit anderen, Therapieversuche wurden abgebrochen.

Erst 2009 sprechen sie zum ersten Mal. Mit der Journalistin Heike Otto, die die Geschichte der Familie Resch aufschreiben, sie vor dem Vergessen bewahren will. Stundenlang redet sie mit vielen Beteiligten und merkt: Die Flucht ist auch 25 Jahre später noch nicht vorbei.

Fotos: BStU, MfS, BV Suhl, AU 132/86, Bd. I, S. 108 und BStU, MfS, BV Suhl, AU 132/86, Bd. I, S. 101