Auf einer seiner Reisen sah der Bamberger Turkologe Klaus Kreiser in einem kleinen Dorf bei Ankara eine Mutter mit ihrer Tochter an einer Atatürk-Statue vorbeigehen. Das kleine Mädchen fragte: „Mama,hat Atatürk eigentlich wirklich gelebt?“ Der beinahe schon religiös wirkende Kult, der in der Türkei um den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zelebriert wird, macht es manchen anscheinend schwer zu glauben, dass es ihn wirklich gegeben hat, als Person aus Fleisch und Blut.

Atatürk ist in der Türkei allgegenwärtig: Der bedeutendere der beiden Flughäfen Istanbuls ist nach ihm benannt, genau wie die über einen Kilometer lange Bosporus-Brücke, die Europa mit Asien verbindet. Atatürk-Statuen, Atatürk-Bilder, das Atatürk-Mausoleum, Atatürk-Briefmarken, die Vorderseite jedes Geldscheins, das Atatürk-Olympiastadion – nur in Moscheen wird man nicht mit ihm konfrontiert.

Atatürk, was „Vater aller Türken“ bedeutet, legte mit seinen Reformen und dem Willen zum kompromisslosen Wandel weg vom Erbe des Osmanischen Reichs hin zu einem modernen Staat das Fundament der heutigen Türkei. Für Klaus Kreiser stellt sich die Frage daher nicht, wo man Atatürk im Alltag antreffen könne. „Die Frage ist doch eher: Wo ist Atatürk nicht?“ Er steckt in jedem Wort, denn er hat die lateinischen statt der arabischen Buchstaben und neue Wörter eingeführt. „Ein Volksschullehrer würde Atatürk im Original gar nicht mehr verstehen, so viel hat sich verändert“, sagt Kreiser. Dabei starb Mustafa Kemal Atatürk vor 68 Jahren.

An seinem Todestag, dem 10. November, gedenkt das ganze Land des Staatsgründers mit einer Schweigeminute um 9.05 Uhr. Wer in die Türkei reist, erlebt Atatürk aber nicht nur als Bild, Statue oder Namensgeber für Bauwerke. Im ganzen Land findet man außerdem seine Zitate. Am Eingang der Universität in Ankara steht zum Beispiel geschrieben: „Der wahre Lehrmeister ist die Wissenschaft.“ Atatürk sagte das 1924, zu einer Zeit also, als in vielen anderen Ländern gerade Religion von Ideologie abgelöst wurde. Die meisten seiner Zitate werden auch im politischen Kontext verwendet. Eines seiner berühmtesten ist „Friede zu Hause, Friede in der Welt“, mit dem er deutlich machen wollte, dass die Türkei ein reiches Land mit vielen unterschiedlichen Wirtschaftsbeziehungen sein wird, das Krieg nicht mehr nötig hat. Auch eine Hochzeits- oder Bankettrede ist selten ohne einen Spruch Atatürks komplett, so die allgemeine Annahme. Den wenigsten ist dabei präsent, dass Atatürk im heute griechischen Saloniki geboren wurde.

Auf Westeuropäer kann dieser politische Personenkult befremdlich wirken, erinnert er doch auf den ersten Blick an die Art, wie Diktatoren des 20. Jahrhunderts sich im öffentlichen Bewusstsein zu verankern versuchten. Für Türken mag Atatürk zwar vielleicht quasidiktatorische Machtbefugnisse gehabt haben, doch sie finden: zu Recht. Seine Reformen seien notwendig und gut gewesen. Atatürk selbst empfand die Behauptung, er regiere wie ein Diktator, als eine der schlimmsten Beleidigungen überhaupt.

Er stärkte die Frauenrechte, indem er etwa das Frauenwahlrecht einführte. In Vorträgen vor Lehrern betonte er die Bedeutung der Bildung. Seine Landwirtschaftsreform machte die Bauern unabhängiger. Er trennte Staat und Kirche,doch selbst die von ihm verhöhnten religiösen Führer hatten kaum etwas zu befürchten – was auf einer Fehleinschätzung Atatürks beruhte: Er dachte, der Einfluss des Islam werde mit der Generation seiner Eltern verschwinden. Klaus Kreiser sieht einen der Gründe für Atatürks Verehrung in der Türkei in dessen Kampf für die nationale Einheit. 

„Ein Russe weiß: Russland würde es auch ohne Peter den Großen geben,wenn auch ein bisschen anders. Doch Atatürks Wirken wird als Einsatz um alles oder nichts angesehen.“ Dazu gehörte auch, dass er die Streitkräfte neu gründete, die sich seither als Wächter der kemalistischen Staatsordnung begreifen. Vor Verunglimpfungen schützt Atatürk ein Gesetz, das konsequent angewandt wird. Als ein türkischer Journalist zum Beispiel vor zwei Jahren schrieb, Atatürk sei ohne religiöses Gebet beerdigt worden, wurde er zu 15 Monaten Haft verurteilt – obwohl er sich berichtigt und öffentlich entschuldigte hatte.

Die Privatperson Atatürk wird in der Türkei bisher sehr wenig thematisiert. Der Biograf Andrew Mango (Ataturk: The Biography of the Founder of Modern Turkey) schreibt, sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein sei sein wichtigstes Merkmal gewesen. Man könnte aber auch sagen, dass Atatürk kaum Kritik an seiner Person duldete. Und dass er von anderen Menschen Dinge forderte, die er selbst nicht einhielt. So wurden unter seiner Führung 1926 zwar die Rechte für Frauen erheblich ausgeweitet, er selbst aber kam in seinem Privatleben damit wenig zurecht. Er heiratete einmal, die Ehe hielt nur zwei Jahre, und auch in dieser Zeit verzichtete er nicht auf andere Frauen. Er war bekannt für seine Vorliebe für Raki und ausgiebige Feiern, auf denen er oft in Frack und Zylinder erschien. Der Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau Latife wird noch heute unter Verschluss gehalten. Außer den Entwicklungen, die die Religion betreffen, wäre Atatürk mit der heutigen Türkei wohl zufrieden, glaubt Kreiser. Die Türkei, schrieb einmal der britische Economist, müsse man sich vorstellen wie einen Baum, mit Wurzeln und Ästen in viele Richtungen. Atatürk sei der Mann, der diesen Baum gepflanzt, aufgezogen und gestutzt hat.