„Habt ihr von einem Begriff gehört, der Scharia?“ Imam Benjamin Idriz steht vor 15 Schülern, die ihn ratlos ansehen. „Scharia, nie gehört? Muhammet, du?“ – „Das ist doch das, was in einigen Ländern noch zählt?“, sagt ein Junge in der ersten Reihe. Muhammet legt noch einmal nach: „Das sind diese Strafen, Steinigung und so.“ Idriz nickt. Ein anderer Schüler meldet sich: „Wenn Terroristen in einem Land mächtig werden, dann machen sie mit der Scharia Strafen. Die sind streng.“ Eine Schülerin fragt: „In Amerika gibt es die Todesstrafe. Ist das die Scharia?“ Aufklärungsbedarf in Penzberg, einer oberbayrischen Gemeinde im Süden von München. Hier ist der aus Mazedonien stammende Idriz Imam einer Moschee, die die einen misstrauisch, die anderen als „Reform-Moschee“ betrachten. Ein schlichter Kubus mit großen Fensterfronten und zart verschnörkeltem Minarett. Ein islamisches Gotteshaus, das sich dem weiß-blauen Himmel über ihm angepasst hat. Idriz, der islamische Religionsgelehrte, sagt: „Wenn ich selbst einen Staat errichten könnte, dann wäre es Bayern.“

Dabei steht ihm der Freistaat skeptisch gegenüber; zumindest der Verfassungsschutz, der ihn in seinem Bericht erwähnt, weil Idriz Kontakt zu islamistischen Organisationen gehabt haben soll. Dabei hat Idriz nun Ideen veröffentlicht, die ihn zur „Speerspitze der kritischen Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Positionen“ machen könnten. Das sagen nicht die Fans in seiner Gemeinde, das sagt der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude. Idriz fordert eine Reform des islamischen Rechts – der Scharia. Sie müsse interpretiert und angepasst werden, damit sie vorbehaltlos vereinbar ist mit dem modernen Rechtssystem. „Jede Epoche besitzt ihren eigenen Geist. Ein unveränderliches Rechtssystem, das für alle Zeiten gültig sein soll, ist unmöglich.“

4 Millionen Muslime gibt es in Deutschland

In Deutschland löst allein schon das Wort Ängste aus. Die meisten Menschen denken an drakonische Strafen wie Steinigung und Handabhacken, an Brüder, die ihre Schwestern ermorden, weil die sich gegen eine Zwangsheirat wehren. Doch all das ist nur ein Bruchteil dessen, was die Scharia darstellt und was in ihr geregelt ist. Die Scharia besteht nicht nur aus Verboten, sie ist eher eine Art Richtschnur des islamischen Lebens, die von den täglichen Gebeten über die rituelle Waschung und Bekleidungsordnung bis hin zu den Regelungen im Straf- und Familienrecht reicht, die in westlichen Ländern am umstrittensten sind: So bevorzugt das Erbrecht die männliche Verwandtschaft. Die Regelungen für Ehe, Scheidung und Vormundschaft der Kinder fallen ebenfalls zugunsten des Mannes aus. Entstanden im 9. Jahrhundert n. Chr. galt die Scharia bis ins 19. Jahrhundert in der gesamten islamischen Welt. Erst dann begannen Reformen, die Scharia wurde ersetzt, ergänzt und überlagert. In der Mehrzahl der islamischen Staaten gilt die Scharia heute nur noch in einzelnen Bereichen. In der Türkei ist sie seit 1926 ganz abgeschafft. In Ländern wie Saudi-Arabien und Iran gibt es auch die radikale Auslegung der Scharia und Verurteilungen zum Tod durch Steinigung.

Und in Deutschland, wo Millionen Muslime leben und der Islam, wie Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, dazugehört? Da „gilt das Grundgesetz und nicht die Scharia“, sagt Angela Merkel. Der Rechtswissenschaftler und Islam- Experte Mathias Rohe, der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen- Nürnberg Professor für bürgerliches Recht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung ist, korrigiert die Kanzlerin. Er sagt: „Auch in Deutschland können Normen der Scharia angewendet werden.“ Denn unser Gesetz lasse die Umsetzung mancher Normen in bestimmten Umfang zu. Steinigung und Grundgesetz, das passt natürlich nicht zusammen: „Beim Strafrecht gelten ausschließlich die deutschen Regeln“, sagt Rohe.

Also sind Peitschenhiebe bei Ehebruch oder gar die Todesstrafe beim Kirchenaustritt nicht erlaubt. Aber es gibt anderes, worüber man reden kann – und worüber geredet wird, zum Beispiel die rechtlichen Vorschriften im Bereich Vertrags- und Familienrecht. Diese Fälle werden schon länger nach dem deutschen „internationalen Privatrecht“ (IPR) verhandelt. Es bestimmt, welches Recht bei Fällen, in denen die Betroffenen aus dem Ausland kommen, angewendet werden muss. So kommt es, dass ein aus dem Iran stammendes Paar auch in Deutschland nach iranischem Recht verheiratet oder geschieden wird. Oder die Zweitfrau eines Mannes bestimmte Ansprüche auch hier geltend machen kann. Justizirrtümer sind da nicht ausgeschlossen. Für Aufsehen sorgte ein Fall, der 2007 in Frankfurt verhandelt wurde. Damals war eine 26-jährige Deutschmarokkanerin vor das Amtsgericht getreten, um sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden zu lassen. Doch die Richterin lehnte es ab, weil das im islamischen Recht vorgesehene Trennungsjahr noch nicht vorüber war und die „Ausübung des Züchtigungsrechts“ im „marokkanischen Kulturkreis“ nicht unüblich sei. Eine unzumutbare Härte, die die sofortige Scheidung begründet hätte, sei deshalb nicht vorhanden.

Ein Ausreißer? Oder schleicht sich die Scharia allmählich in Deutschland ein? Für Prof. Rohe war das Urteil ein einmaliger Fall, der zudem sofort korrigiert wurde. „Der Koran gilt weder hier noch in Marokko als Recht. Auch dort kann sich eine Ehefrau scheiden lassen, wenn sie Schaden nimmt in der Ehe.“ Die Herleitung der Richterin sei „absoluter Käse“. Tatsächlich hat das deutsche IPR für solche Fälle vorgesorgt – durch den Ordre- Public-Vorbehalt. Demnach darf eine ausländische Rechtsnorm nicht angewendet werden, wenn sie im Ergebnis mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar ist. Rohe betont: „In Deutschland gilt grundsätzlich deutsches Recht. Der Gesetzgeber erlaubt aber, die Türe ein Stück weit aufzumachen, sodass auch islamisches Recht zur Anwendung kommen kann. Das Grundgesetz darf aber nicht verletzt werden.“

2.000 Imame (religiöse Gelehrte des Islams) gibt es in Deutschland

Die Türe lieber ganz schließen will die Frauenrechtlerin Seyran Ates. „In Deutschland darf es keine Rechtspluralität geben“, fordert sie. Gerade im Bereich Familienrecht dürfe man keinen Schritt nachgeben. Die 47-Jährige arbeitete selbst jahrelang als Anwältin und vertrat – ebenfalls nach dem IPR – schon Mandantinnen, deren Männer polygam lebten, also gleich mehrere Ehefrauen hatten. „So eine Ehe ist hier zwar nicht legal akzeptiert, aber sie wird anerkannt. Ansonsten hätten die Frauen keinerlei Rechte auf Unterhaltszahlungen oder bei den Sozialversicherungsansprüchen.“ Ates befürchtet dennoch, dass eine Parallelgesellschaft in Deutschland entstehen könne. „In bestimmten Fragen vertrauen manche Muslime mehr dem Imam, der in der Moschee die Rolle des Richters übernimmt.“ Für viele Muslime sei der Vorbeter einer Moschee eine objektive Instanz, die über Familienstreitigkeiten oder Konflikte mit dem Nachbarn urteilen kann. Die Sitzungen beim Imam endeten meist so, dass den Frauen der Vorwurf gemacht werde, sie verhielten sich nicht so, wie sie sollten.

Befürworter einer begrenzten Anwendung von islamischem Recht glauben hingegen, dass sich die Entstehung zweier Rechtswelten gerade durch Entgegenkommen verhindern lasse, und führen als Beispiel das sogenannte Schächten an: So hat es das Bundesverfassungsgericht 2002 als religiöses Gebot anerkannt, Tiere ohne Betäubung ausbluten zu lassen. Ein Zugeständnis an die Religionsfreiheit – das allerdings nur per Ausnahmegenehmigung in Abwägung des Tierschutzes möglich ist. „Es ist wichtig, das Signal auszustrahlen: ‚Wir verstehen euch.‘ Sonst verprellen wir Teile der Gesellschaft“, sagt Islamexperte Rohe.

Eine wichtige Rolle für den Rechtsfrieden könnten in Zukunft die Imame spielen, die religiös Gelehrten. Sie schlichten bei Streitigkeiten, legen Leitlinien in Glaubensfragen fest, sind Seelsorger und Vorbilder. Ihr Wort hat in den meisten Familien Gewicht: Darf man eine Freundin vor der Ehe haben? Ist täglich fünfmal beten Pflicht? Muss eine Frau Kopftuch tragen? Allerdings ist die große Mehrheit der geschätzt 2000 Imame in Deutschland aus dem Ausland gekommen, der Türkei, Marokko oder Ägypten, ohne viel von Deutschland zu wissen oder die Sprache zu sprechen. Ein großes Manko, findet Bülent Ucar. Der 34-Jährige ist Professor für islamische Religionspädagogik in Osnabrück, wo im Oktober 2010 eine zweisemestrige Fortbildung für Imame startete – eine Schulung in Landeskunde, Kultur und Politik. Ende 2012 soll ein eigener Studiengang für Imame beginnen. „Wir brauchen gut ausgebildete Leute, für die Scharia kein monolithischer Block von Vorschriften ist“, sagt Ucar. „Imame, die neben der traditionellen Auffassung im Islam auch andere kennen.“

Wo diese Vorbilder fehlen, sei zu viel Platz für Prediger, die ihre Gemeinde mit einfachen Botschaften verführen und dann Urteile treffen, die mit dem deutschen Recht nicht vereinbar sind. Oder gar ein quasi paralleles Justizsystem, wie es sich in Großbritannien entwickelt hat – ganz offiziell. Scharia-Räte überall im Land sprechen Fatwas – Rechtsgutachten – darüber aus, wie sich Muslime zu verhalten haben. Die Entscheidungen über Ehen oder Erbschaften sind rechtlich bindend, wenn sie nicht mit dem englischen Gesetz in Konflikt geraten und die Beteiligten mit der Wahl einverstanden sind. In Deutschland ist ein vergleichbares System nicht zu erwarten. Die Mehrheit der Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit ist mit dem deutschen Rechtssystem zufrieden: 73 Prozent von ihnen vertrauen deutschen Richtern, Staatsanwälten und Instanzen. Von der Gesamtbevölkerung tut das gerade mal knapp die Hälfte.