Wenn wie jedes Jahr an den finnischen Gymnasien die Abi-Reise geplant wird, dann stehen zwei Ziele zur Auswahl: die „Schweden- Fähren“ nach Stockholm und die „Spirituosen- Rallye“ nach Tallinn. Stockholm hat mehr Stil und Tradition. Zurzeit aber ist Tallinn Favorit. Die Überfahrt dauert rund zwei Stunden, die Palette Gin-Tonic-Dosen (24 Stück) kostet nur 23 Euro – das ist fast 30 Euro billiger als in Helsinki. In Finnland ein unschlagbares Argument. Und so fahren sieben Mal täglich Schiffe mit nüchternen Menschen nach Estland und kommen mit Betrunkenen zurück.

Alkohol – die Finnen haben, man kann es nicht anders sagen, ein neurotisches Verhältnis zu ihm. Man trinkt viel, und Schnaps ist beliebt (25 Prozent des Alkoholkonsums sind Spirituosen). Es gibt viele Thesen, warum das so ist. Das Wetter, das fehlende Licht, das bäuerliche Wesen der Finnen, ein Kriegstrauma. Manche sagen allerdings auch, schuld sei der finnische Staat. Denn der hat seit 78 Jahren ein Monopol auf Alkohol. Das heißt, man kann nur in bestimmten Läden – die der staatlichen Alko-Kette – Getränke mit mehr als 4,7 Prozent Volumenalkohol kaufen. Und das auch nur Montag bis Freitag von 9 bis maximal 20 Uhr und samstags zwischen 9 und maximal 18 Uhr. Man muss sich den finnischen Staat wie einen Dealer mit gesellschaftlicher Verantwortung vorstellen: Einerseits will man den Alkoholkonsum eindämmen wegen der ständig wachsenden Anzahl der Erkrankungen und Todesfälle und dem miesen Säufer- Image der Finnen in der internationalen Öffentlichkeit. Andererseits verdient der Staat über die Steuer am hohen Konsum. Nüchtern betrachtet ist es schwer auszumachen, was zuerst da war: das Alkoholproblem oder die staatliche Regulierung des Alkoholproblems.

Die Geschichte des finnischen Saufens beginnt irgendwann im späten 16. Jahrhundert mit dem ersten Schnapsbrennen. Die Finnen, damals ein Teil des schwedischen Königreiches, hielten Schnaps lange für ein Wunderheilmittel, mit dem man allerlei Beschwerden lindern könnte. Schnapsbrennen im eigenen Kessel fand auf praktisch jedem Bauernhof statt. Mit der Folge, dass der Konsum fröhlich stieg, bis der Klerus im Jahr 1686 eingriff und das Trinken in der Kirche verbot. Schon knapp 50 Jahre zuvor hatte bereits das unter Druck geratene schwedische Königshaus begonnen, den Alkoholkonsum in den Städten zu besteuern. Die Schnapsidee wurde zur Gelddruckmaschine: Sobald mehr Geld gebraucht wurde, schränkte man einfach die Erlaubnis für Schnapsbrennerei ein, was die Bauern in die Läden trieb. Berauscht von den Erfolgen versuchte man 1776 ein staatliches Alkoholmonopol durchzusetzen und die Privatbrennerei zu verbieten. Die Idee stieß auf heftigen Widerstand; erst 1866 gelang es dem Staat, das Brennen zum Eigenbedarf zu verbieten. In der Folgezeit wurde nicht nur die Herstellung, sondern auch Verkauf und Ausschank in den Städten eingeschränkt. Die Verbote betrafen allerdings nicht die Restaurants des Großbürgertums, da man lediglich die Trinkgewohnheiten des Proletariats für problematisch hielt.

Zeitgleich entwickelte sich in Finnland eine zutiefst puritanische Vorstellung von Nüchternheit als Grundlage erfolgreichen Lebens. Der Verein „Freunde der Abstinenz“ lancierte 1883 eine ebenso aggressive wie erfolgreiche PR-Kampagne, um ein Alkoholverbot durchzusetzen. Abstinenzler und für Prohibition kämpfende Politiker kreierten den Mythos vom finnischen „Trinker-Gen“: eine haarsträubende biologistische Erklärung, nach der sich Finnen unter der Einwirkung von Alkohol unzivilisierter und gewalttätiger verhalten als andere Völker. Die inzwischen widerlegte These ist noch immer in weiten Teilen des Landes verbreitet. Das Alkoholverbot trat 1919 in Kraft – und ging in die finnische Geschichte ein als das am häufigsten verletzte Gesetz. Das heimliche Selbstbrennen nahm rapide zu, die Schmuggelwege florierten, und mit codierten Bestellungen konnte man in Restaurants illegalen Alkohol erstehen, populär waren „ein starker Tee“ oder „ein verstärkter Kaffee“. Als der wirtschaftliche Zusammenbruch zu Beginn der 1930er Jahre den Staat fast ausblutete, besann man sich auf ein altes Modell: staatliche Alkoholabgabe. Eine Volksabstimmung ergab, dass über 70 Prozent eine derartige Sache für sinnvoll erachteten. Als Folge wurde 1932 die Monopolgesellschaft Oy Alkoholiliike Ab, später kurz: Alko, gegründet.

Wie fast alle traditionellen finnischen Firmen hat auch Alko eine starke Verbindung zum einschneidendsten Ereignis in der jüngeren finnischen Geschichte: dem „Winterkrieg“. 1939 überfiel die Sowjetunion das souveräne Finnland. Die Finnen, unvorbereitet und schlecht ausgerüstet, stellten sich dem Erzfeind auf Skiern entgegen. Weil ihnen Panzerfäuste fehlten, bastelten sie Wurfbrandsätze aus Flaschen, gefüllt mit leicht entzündlichen Flüssigkeiten, und nannten sie nach dem damaligen sowjetischen Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten „Molotow-Cocktails“. Alko übernahm die Produktion und lieferte im Laufe des Winterkrieges über 450.000 Stück an die Front. An ein Alkoholverbot war während und nach den Wirren des Krieges nicht mehr zu denken. Aber mit wachsender Sorge beobachtete man die Auswüchse des Alkoholmissbrauchs. Um den Konsum zu kontrollieren, wurde ein einzigartiges Überwachungssystem eingeführt: Jeder Alko-Einkauf wurde auf einem persönlichen „Schnaps-Schein“ registriert. Kaufte ein Kunde zu viel, wurde er zum Beratungsgespräch vorgeladen. Auch wenn die Kontrolle nach und nach bis zur Aufgabe im Jahr 1958 abgeschwächt wurde, blieb die „Schnaps-Karte“ bis 1971 bestehen.

Früh identifizierte man ein Hauptproblem im Trinkverhalten der Finnen: Sie tranken eher Spirituosen als Bier oder Wein. Zur Olympiade in Helsinki 1952 veröffentlichte Alko deshalb einen Leitfaden für gutes Benehmen, der die Finnen im Vorfeld der Olympiade mit „europäischen Sitten“ bekannt machen sollte. Um der Kampagne Nachdruck zu verleihen, wurden die Preise für Bier und Wein gesenkt, die für Spirituosen erhöht. Ziel war es, die Trinkgewohnheiten der Finnen weg von Hochprozentigem und hin zu milderen Getränken zu lenken.

Mit dem Beitritt Finnlands zur EU veränderte sich alles: Die EU hatte Finnland zwar noch das Recht zugestanden, während einer Übergangszeit den Alkoholimport strikter als andere Mitgliedsstaaten zu beschränken. Im Jahr 2004 endete aber diese Vorsichtsmaßnahme, und die Finnen durften 110 Liter Bier, 90 Liter Wein, 10 Liter Spirituosen und 20 Liter andere alkoholische Getränke zollfrei einführen. Als Estland im selben Jahr der EU beitrat, befürchtete man – nicht ganz zu Unrecht –, dass der Privatimport von dort astronomische Ausmaße annehmen würde. Die finnische Regierung reagierte schnell, indem sie die Steuer auf alkoholische Getränke im Durchschnitt um die inzwischen legendären 33 Prozent senkte, um den Binnenmarkt zu stützen. In der Folge stieg der Alkoholkonsum bedrohlich an – schon innerhalb des Jahres 2004 um mehr als neun Prozent. 2005 wurde Alkohol bereits die häufigste Todesursache bei männlichen Finnen im arbeitsfähigen Alter. Ismo Tuominen, Regierungsrat im Sozialund Gesundheitsministerium, bezeichnete die Steuersenkung als „größte sozialpolitische Katastrophe“. 2008 und 2009 hob man die Alkoholsteuern in insgesamt drei Schritten erneut an, der Jo-Jo-Effekt trat unmittelbar ein: 25 Prozent mehr Alkohol wurde von den Finnen 2009 aus Estland eingeführt, was die einheimischen Brauereien in Sinnkrisen stürzte.

Finnland ist eine Art Quartalssäufer-Land – bloß, dass die Quartalsabschnitte wöchentlich sind. Weil man beim Militär mittwoch-, freitag- und samstagabends frei hat und weil praktisch alle Männer beim Militär waren, ist dies auch der prägende Trinkrhythmus. Natürlich hat sich in den urbaneren Gebieten auch eine Connaisseur-Kultur durchgesetzt. Es kommt vor, dass man gesittet zum Abendessen ein, zwei Gläser Wein trinkt, ohne gleich die Schnapsflasche unter der Spüle hervorzuholen. Auch haben die Alko-Läden ein hervorragendes Weinsortiment und gut ausgebildetes Personal, das sich vor mitteleuropäischen Sommeliers nicht verstecken muss. Aber das Phänomen ist, vor allem auf dem Land und unter Jugendlichen, seit Jahrzehnten unverändert: In Finnland wird seltener, aber heftiger getrunken. Sinn oder Unsinn des Alkoholmonopols ist das Gesprächsthema, auf das sich Finnen aller sozialer Schichten einigen können. Ganz so, wie ältere Menschen über Gesundheitsthemen zueinanderfinden oder sich wildfremde Männer über Sport verständigen, nutzen Finnen die Debatte über Alkoholsteuer, neue Weine bei Alko oder die Preise für eine Gin-Tonic-Dose auf der Fähre nach Tallinn, um miteinander warm zu werden. Eine Mehrheit im Land befürwortet das Staatsmonopol. Vielleicht, weil sich die Finnen vor sich selbst fürchten, vielleicht aber auch, weil sie froh sind, vom Staat mit „sauberem Stoff“ versorgt zu werden. Denn fast jeder Finne kennt eine Geschichte von einem entfernten Verwandten, der sich beim Versuch, selber Schnaps herzustellen, vergiftete oder dabei gar erblindete.