Den ersten Irrtum hatte es schon vor seiner Ankunft gegeben. Das war kurz nach dem Krieg in Vietnam. Doch Nguyen Tien Duc, den alle nur Duc oder Herr Duc nennen, ahnte noch nicht, dass das vielleicht ein Zeichen war. Er konnte ja nicht wissen, was da noch kommen sollte. Nie hätte er sich ausgemalt, dass das Missverständnis einmal zu seiner Lebensaufgabe werden würde. Als sein Zug schnaufend und schwankend in Richtung China fuhr, war er 22 Jahre alt. Er war zur Schule gegangen und dann zur Armee. Er hatte Lebensmittel verwaltet und Uniformen. Er war ordentlich und strebsam. Er hatte einen Krieg gewonnen. Er machte seine Sache gut. Weit weg, am anderen Ende der Welt, gibt es ein Land, das von einem gewaltigen Fluss namens Elbe durchzogen wird, sagten sie. Dort ist es besser als zu Hause. Dort sind die Straßen sauber und modern. Dort kannst du eine Uhr auf einer Parkbank vergessen und eine Woche später liegt sie noch immer da. Die Menschen sind ehrlich und weise. Außerdem bauen sie die besten Maschinen der Welt. Nach allem was Herr Duc wusste, war dieses Land das Paradies. Herr Duc erinnert sich noch genau an den Tag seiner Abreise. Es war der 28. August 1977. Vietnam lag in Trümmern. Entlaubt, verbrannt, zerbombt. »Doch die Stimmung«, sagt Herr Duc, »die Stimmung war gut. Es gab einen gemeinsamen Feind. Alle waren für einander da.« Sie fühlten sich damals wie die Größten. Sie hatten das riesige Amerika besiegt, das ein Mehrfaches an Bomben auf ihr Land geworfen hatte, als im Zweiten Weltkrieg auf ganz Deutschland fielen. Sie glaubten an die Partei, das Land, den Kommunismus – nicht unbedingt an die Bücher darüber. Marx, Engels, Lenin – die Theorie war so weit weg wie der Mond, der über ihnen kreiste, als der Zug sie nach Deutschland fuhr.

Die DDR brauchte Menschen wie Herrn Duc

»Ich bitte Sie, auf Ihre Sachen zu achten. Sonst kommt hier noch was weg«, sagte der deutsche Betreuer zu den Vietnamesen, als sie nach 13 Tagen Fahrt aus dem Zug stiegen.»Kommt hier doch was weg? «, dachte Herr Duc. »Was ist mit den Uhren auf den Parkbänken? Das haben die falsch übersetzt.« Es war kein Geschenk, das die Deutschenden Vietnamesen da machten, kein Schüleraustausch. Es war ein Vertrag zwischen zwei sozialistischen Staaten, von denen der eine Menschen brauchte, weil seine eigenen Menschen wegliefen, und der andere Geld und Technologie. Mehr als 2,7 Millionen Bürger waren seit der Gründung der DDR nach Westdeutschland geflüchtet. Es gab ein Vakuum, das die Produktion in den Fabriken gefährdete. Sie brauchten im Osten Leute wie Herrn Duc. Über 60.000 Vietnamesen holten sie bis 1989 in die DDR. Als Herr Duc und die anderen die Elbe sahen, waren sie maßlos enttäuscht. »Das ist kein Fluss, da kann man ja rüberspucken«, sagten sie. Und auch die Sprache war ein größeres Problem, als siegedacht hatten. Die Wörter waren gespickt mit Umlauten und Konsonanten, zusammengeschnürt von einer verwirrenden Grammatik. Herr Duc trug überall ein Büchlein mit sich rum, wenn er sich mit Deutschen unterhalten wollte, suchte er sich amAnfang einfach ein Kind. Nicht alle lernten so schnell wie er. Die Vietnamesen waren meistens unter sich, ihre Regierung hatte ihnen verboten, den Deutschen zu nahezukommen. Sie lebten in Heimen, sie durften nicht in die Kneipe, sie durften sich nicht die Haare lang wachsen lassen, sie durften keine Mädchen kennenlernen und sie durften nicht nackt zum FKK. Wenn eine Gastarbeiterin ein Kind erwartete, musste sie entweder abtreiben oder zurück nach Vietnam.

Herr Duc arbeitete fleißig: Erst zeigten sie ihm, wie man schwere Dieselmotoren zusammenbaut, dann wie man dieses Wissen an Lehrlinge weitergibt. Vom sozialistischen Bewusstsein der Deutschen aber war er enttäuscht. Wenn der Meister weg war, begannen die deutschen Kollegen zu trinken oder sie stahlen Sachen aus dem Betrieb. Einmal half er einem Kollegen, der kein Deutsch sprach, eine Jacke zu kaufen, die in einem Schaufensterausgestellt war. »Ham wa nich«, schnauzte die Frau die beiden Vietnamesen an. Da erinnerte sich Herr Duc an einen Satz, den er in einem Buch gelesen hatte, das »Rechte der Käufer« hieß. »Sie sind verpflichtet uns alle Waren im Laden zu verkaufen. Wenn die Jacke momentan zu Dekorationszwecken gebraucht wird, holen wir sie in zwei Wochen ab«, sagte Herr Duc. Er sagte es leise und bestimmt – sie bekamen die Jacke sofort. Da merkte Herr Duc: Wer in diesem Land etwas erreichen will, muss erstens selber denken und zweitens wissen, nach welchen Regeln man hier spielt. In der Vorwendezeit hielten die Deutschen und ihre Gastarbeiter noch einigermaßen zusammen. Wenn die Magdeburger demonstrieren gingen, passte Herr Duc auf ihre Kinder auf. Doch je mehr sich der Staat auflöste, desto ungemütlicher wurde es für ihn. Als er das erste Mal mitbekam, dass die Deutschen sie Fidschis nannten, verwirrte ihn das ungemein. »Fidschi ist ein schönes Land«, sagt Herr Duc. »Die Menschen dort sind sehr kultiviert.« Es dauerte nicht lange, dann merkten sie, dass dieses Wort, von dem niemand wusste, woher es eigentlich kam, im Grunde nur ein Synonym für Abschaum war. Es gab ein paar Facharbeiter in seinem Betrieb, die ahnten sehr früh, was nach der Wiedervereinigung mit der Industrie der DDR passieren würde. Sie sammelten Unterschriften bei den Kollegen und forderten: Erst die Vietnamesen entlassen und dann uns. Doch es nützte nicht viel. Anfang der Neunzigerjahre verloren sie praktisch alle ihren Job. In dieser Zeit sprach es sich bei den Vietnamesen herum, dass Herr Duc ein Mensch war, der gut mit den Deutschen umgehen konnte. Sie brauchten seine Beratung dringend: Die Jahre nach der Wende waren nicht gut für sie.

Der Aufenthaltsstatus der vietnamesischen Gastarbeiter war unsicher im vereinigten Deutschland. Anders als die Migranten in Westdeutschland wurden sie bis 1997 nicht als reguläre Arbeitnehmer mit unbeschränktem Bleiberecht anerkannt. Gastarbeiter mussten ihre Heime verlassen und manche wurden obdachlos. Wenn sie bereit waren zurückzukehren, erhielten die Vietnamesen einen Freiflug und 3000 DM. Zwischen 45.000 und 50.000 von ihnen nutzten diese Möglichkeit. Aber es gab auch andere, die bleiben wollten, aber nicht wussten wie man mit einer deutschen Behörde verhandelt. Herr Duc war arbeitslos und hatte viel Zeit. Er half seinen vietnamesischen Landsleuten gern. Die Politiker diskutierten in diesen Jahren nicht besonders viel über Integration, sondern mehr darüber, wie man Gastarbeiter und Asylbewerber am schnellsten loswerden kann. In Rostock-Lichtenhagen griffen Rechtsradikale über mehrere Tage hinweg ein von Vietnamesen bewohntes Haus an und wurden dafür von den Nachbarn beklatscht. In Magdeburg, einer Stadt, in der im Schnitt nur jeder Dreißigste ein Ausländer ist, rasierten sich Jugendliche Glatzen und pöbelten auf der Straße herum. Einmal sagte ein Junge »du Fidschi raus« zu Herrn Duc. Da erwiderte er: »Ich habe mehr für dieses Land getan als du.«

Heute lebt Herr Duc noch immer in Magdeburg. Hinter seinem Haus züchten er und seine Frau vietnamesisches Gemüse, das es hier nicht so gut zu kaufen gibt. Herr Duc hat einen deutschen Pass, er hat ein zweites Studium mit besten Noten abgeschlossen, seit über zehn Jahren berät er in Magdeburg Ausländer für die Caritas. Für ein Integrationsprojekt trat er vergangenen Herbst mit einem traditionellen, E-Gitarren-artigen Instrument namens Dan Bao in einem Zelt auf. Er machte ein bisschen Musik und erzählte deutschen Kindern ein Märchen aus Vietnam.

Die Kinder haben blaue Flecken auf dem Po

Nach allem, was er erlebt hatte, verstand Herr Duc irgendwann, warum Vietnamesen es so schwer haben in diesem Land. Vor Kurzem hat er ein Buch geschrieben, in dem er erklärt, warum das so ist. Es ist ein Buch voller Missverständnisse und Sonderbarkeiten. Darin steht zum Beispiel, dass Vietnamesen an Feen glauben, dass es Unglück bringt, eine Mutter mit ihrem Neugeborenen zu besuchen, dass Kinder blaue Flecken auf dem Po haben und dass diese Flecken nichts mit Misshandlung zu tun haben. Herr Duc erzählt, dass Vietnam eine konfuzianische Kultur hat, die schon Jahrtausende zurückreicht. Es gibt einen fein gesponnenen Katalog von Regeln, damit jeder weiß, was zu tun ist und was besser nicht. Es ist zum Beispiel äußerst unhöflich, sich in die Augen zu schauen oder den anderen direkt beim Namen anzusprechen. Wenn man etwas ablehnt, sagt man seltsamerweise nicht »Nein«, sondern »Ja Ja Ja«. Herr Duc kennt eine Vietnamesin, die deswegen mal in eine peinliche Situation geriet. Sie wollte zur Schwangerschaftsberatung, doch sie verirrte sich in die Drogenberatung, wo sie die ganze Zeit nickte, wenn man sie etwas fragte. Es erschien ihr unhöflich zu erklären, dass sie überhaupt nicht süchtig war. »Die Bescheidenheit ist ein großes Problem der Vietnamesen in Deutschland«, sagt Herr Duc. Kinderärzte und promovierte Chemiker verkaufen auf Wochenmärkten Obst und Stoffe, ein Kinetiker betreibt ein Lebensmittelgeschäft in Ostberlin.

Im Büro von Herrn Duc hängt versöhnlich wirkender Wandschmuck aus Deutschland und Vietnam. Er sagt, es sei nicht immer einfach gewesen hierzubleiben. Er habe sich oft einsam gefühlt und Heimweh gehabt, doch er sei in Deutschland sehr froh. An einer Pinnwand ist eine Zeichnung von einem kleinen, grünen Frosch im Schnabel eines großen Vogels befestigt. Noch aus dem Schnabel heraus greift der Frosch nach dem Hals des Vogels, um ihn mit letzter Anstrengung zu würgen. »Niemals aufgeben« steht darüber. Herr Duc ist jetzt 54 Jahre alt. Er hat gegen die Amerikaner gekämpft, gegen die Kapitalisten, gegen die Rechtsradikalen in Deutschland. Ein bisschen kann er vielleicht sogar verstehen, wieso sie Jagd machten auf Menschen wie ihn. »Ich habe immer Feinde gehabt«, sagt Herr Duc. »Das macht eine Gruppe stark.« Aber irgendwie müsse das doch aufhören, sagt er. »Ist es nicht möglich, dass man ohne äußere Feinde zusammenhalten kann?«