fluter.de: Eine neue Ära, eine politische Explosion, ein Elektroschock – in Frankreich machen diese Begriffe schon jetzt die Runde, obwohl doch erst am Sonntag die Stichwahl ist. Warum?

Frank Baasner: Weil es erstmals beide traditionellen Parteien, also Republikaner und Sozialisten, nicht in die Stichwahl schafften. Bisher wechselten sich diese Parteien immer an der Macht ab. Die politische Landschaft in Frankreich verändert sich also. Allerdings halte ich das nicht für einen plötzlichen Ausbruch. Das hat sich schon lange angedeutet. 

Inwiefern?

Das linke Lager ist schon lange zerstritten. Es wurde nur noch zusammengehalten, weil die Sozialisten an der Macht waren. Auch im bürgerlichen Lager gab es schon lange heftige Machtkämpfe. Der Familienbetrieb Le Pen ist auch nicht neu, den gibt es ja schon seit über 40 Jahren. Verändert hat sich nur, dass es inzwischen einen hohen Anteil von Stammwählern gibt, die der Front National auf sich vereinen kann. 

„In Deutschland würden wir sagen: Das ist eine Art Große Koalition in einer Person“

Was ist dann wirklich neu?

Der Kandidat Emmanuel Macron. Er hat sich als Einzelkämpfer getraut, sich in die Wüste zu stellen, und gehofft, dass um ihn herum eine Oase entsteht. Das hat geklappt: Innerhalb eines Jahres schaffte er eine Bewegung namens En Marche, die das Rechts-Links-Lagerdenken überwinden will und sich in der Mitte sieht. Macron hat das hinbekommen ohne Parteiapparat im Rücken, es ist eine Bewegung vieler Bürger. In Deutschland würden wir sagen: Das ist eine Art Große Koalition in einer Person.

Was ist in Frankreich bisher so anders gewesen im Vergleich zum deutschen Parteiensystem?

In Deutschland haben wir das Verhältniswahlrecht, in Frankreich das Mehrheitswahlrecht. Wenn bei uns eine Partei entsteht wie die Grünen, dann kann die ihre Abgeordneten im Bundestag haben und Verantwortung übernehmen, ja sogar mitregieren. In Frankreich haben die kleinen Parteien keine Chance. Damit sind viele Bürger nicht mehr einverstanden. Es gibt eine Art Schnauze-voll-Effekt – die Franzosen sagen „ras le bol“. Das hängt auch mit den vielen Skandalen bei Politikern zusammen. Diese Entwicklung erleben wir in vielen europäischen Ländern wie in Italien oder Spanien.

 

Jetzt haben es eine rechtsextreme, nationalistische Marine Le Pen und ein wirtschaftsliberaler Emmanuel Macron in die Stichwahl geschafft. Wie bewerten Sie das? 

Marine Le Pen hat damit punkten können, dass sie seit Langem sagt: Die beiden großen Parteien sind doch gleich. Sie bedienen sich selbst, sie schustern sich Pfründe und Posten zu, sie verachten das Volk, sie haben ihre Pariser Spielwiese und kümmern sich nicht darum, was die Leute auf dem Land wirklich bedrückt. Sie verspricht, dass sie die Bürger beschützen kann, weil sie die Grenzen schließen will, damit die Franzosen sich es sich gemütlich machen können in ihrem schönen Land. Den Rest der Welt will sie ausschließen. Viele Franzosen wählen sie auch aus Protest. Macron verspricht ebenso einen Neuanfang. Aber nicht rückwärts gewandt mit Frankreich als abgeschottetem Nationalstaat. Macron blickt nach vorne und sagt, dass Frankreich in der Globalisierung mitspielen kann und sich nicht verstecken muss. 

„Marine Le Pen hat damit punkten können, dass sie seit Langem sagt: Die beiden großen Parteien sind doch gleich“

Es heißt, es treffen mit diesen Kandidaten zwei Frankreichs heftig aufeinander. Ist das so?

Nicht ganz, denn die Kandidaten haben ja beim ersten Wahlgang nicht einmal 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können. Aber das Land erlebt verschiedene Spaltungen. Etwa beim Thema Globalisierung: Die einen sehen sie positiv, die anderen halten sie für des Teufels Werk und wollen sich abschotten, was eine Illusion ist. Dann gibt es die Spaltung pro und kontra Europa. Und dann erleben wir eine geografische Spaltung: Es fällt auf, dass die Franzosen in größeren Städten kaum Marine Le Pen gewählt haben, sondern den anderen linken Protest-Kandidaten Jean-Luc Mélenchon sowie Emmanuel Macron. Auf dem flachen Land und in den Kleinstädten dagegen haben die Bürger massiv Le Pen gewählt. Erwachsene und Jugendliche auf dem flachen Land glauben anscheinend, dass sie keine Chance mehr haben, dass sie abgehängt sind.

Wie groß ist die Gefahr, dass Marine Le Pen am 7. Mai Präsidentin wird?

Ich rechne nicht damit, dass sie eine echte Chance hat. Sie könnte es nur schaffen, wenn es eine enorme Wahlenthaltung gibt oder Macron noch einen schlimmen Fehler begeht. Die Frage ist vielmehr: Wählen die Franzosen Macron, weil sie ihn gut finden oder weil sie Le Pen verhindern wollen? Nur wenn Macron mit Überzeugung gewählt wird und er ein gutes Ergebnis einfährt, wird er wichtige Reformen durchsetzen können und nicht als lahme Ente starten. 

 

Wie haben die Jugendlichen beim ersten Wahlgang gewählt? 

Drei Kandidaten sind bei den jungen Wählern zwischen 18 und 24 Jahren gut angekommen. Laut Umfragen haben 30 Prozent Mélenchon gewählt, vor allem die aus den linken Bildungsmilieus stammenden Jugendlichen in den Städten. 21 Prozent wählten Marine Le Pen, 18 Prozent den Pro-Europäer Emmanuel Macron. 

Gibt es bei den jungen Franzosen eine stark EU-feindliche Stimmung?

Bei manchen Jugendlichen gibt es – wie bei den Erwachsenen auch – den nationalistischen Reflex. Das hat sicher auch mit Frankreichs Einwanderungsproblemen zu tun und dem Wunsch nach Sicherheit. Dann gibt es bei Frankreichs Jugendlichen einen starken Antikapitalismus nach dem Motto: Globalisierung ist unmenschlich, und die EU ist neoliberal. Aber sehr viele Jugendliche sehen in der EU vor allem Freiheit, Reisen, Erasmus. Und die Möglichkeit, in vielen Ländern zu lernen und zu arbeiten.

Seit dem ersten Wahlgang ist in Frankreich ständig vom Front républicain die Rede. Was hat es damit auf sich?

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Professor  Baasner

Frank Baasner ist Präsident des Deutsch-Französischen Instituts (dfi), einem unabhängigen Forschungszentrums für Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen

Der Begriff wurde geprägt, um extreme Parteien aus dem politischen Spiel herauszuhalten – auch bei den Parlamentswahlen. Wenn in einem Wahlkreis der Kandidat des Front National in der Stichwahl die Chance hat zu gewinnen, gibt es diese republikanische Vereinbarung. Bürgerliche und Sozialisten einigen sich dann auf den chancenreicheren Kandidaten und ziehen den anderen zurück. Bei der aktuellen Wahl ist die Frage, ob das auch wieder klappt. Jean-Luc Mélenchon etwa, den rund sieben Millionen Franzosen gewählt haben, hat sich nicht eindeutig für Macron ausgesprochen. Und der stark konservative Kandidat Nicolas Dupont-Aignan, der beim ersten Wahlgang 4,7 Prozent der Stimmen bekam, schlug sich auf die Seite von Le Pen, obwohl er sie vorher heftig kritisierte. 

„Jean-Marie Le Pen hat ja zum Beispiel die Gaskammern der Konzentrationslager des Nationalsozialismus als Detail der Geschichte bezeichnet“

Als vor 15 Jahren Le Pens Vater in die Stichwahl kam, gab es bereits am Abend der Wahl große Demonstrationen – gerade auch Jugendliche gingen auf die Straße. Jetzt dauerte es mehrere Tage, bis es größere Anti-Le-Pen-Demos gab. Warum ist das so?

Marine Le Pen ist anders als ihr Vater. Sie hält sich zurück mit tabubrechenden Äußerungen. Jean-Marie Le Pen hat ja zum Beispiel die Gaskammern der Konzentrationslager des Nationalsozialismus als Detail der Geschichte bezeichnet. Auch die Partei hat sich geändert, Marine Le Pen hat sie normalisiert – wenngleich das Programm immer noch dem ihres Vaters ähnelt. Die Franzosen haben sich an die Partei gewöhnt, viele Jugendliche wählen sie und kennen nicht mehr die Geschichte der Partei. 

Wie werden sich die traditionellen Parteien verhalten, wenn Emmanuel Macron gewinnt?

Vermutlich wollen sowohl Sozialisten, als auch Republikaner ihre Löffel in die Fleischtöpfe stecken. Nach dem zweiten Wahlgang geht die Spannung weiter, weil im Juni Parlamentswahlen sind. Wird dann Emmanuel Macron seine eigenen En-Marche-Kandidaten durchbekommen? Stellen die Sozialisten eigene Kandidaten gegen ihn auf? Was macht das bürgerliche Lager? Ein Präsident ohne eigene Parlamentsmehrheit kann nur schwer regieren. Er müsste einen Premierminister aus dem anderen Gewinnerlager ernennen. Man nennt so eine Situation in Frankreich cohabitation, also Zusammenleben. Und das gestaltet sich meistens schwierig. 

Titelbild: Francois HENRY/REA/laif