Der Autor Holm Friebe hatte es früher auch nicht so mit dem Rechnen und den Zahlen. Dann fasste er den Plan, gerade deshalb ein Buch über sie zu schreiben („Was Sie immer schon über 6 wissen wollten“) – und hat Erstaunliches über ihre Wirkung im Alltag und ihre Bedeutung für Politik und Gesellschaft entdeckt. Darüber haben wir mit ihm gesprochen, und wer Eins und Eins zusammenzählen kann, wird schon ahnen, was dabei herausgekommen ist: Ein Interview mit einer Vielzahl wertvoller Denkanstöße.

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Give me a one, give me a two, give me a three! Eine Ziffer mehr würde ja schon reichen, und der Parkplatz wäre voll (Foto: Sibylle Bergemann)

Give me a one, give me a two, give me a three! Eine Ziffer mehr würde ja schon reichen, und der Parkplatz wäre voll

(Foto: Sibylle Bergemann)

fluter.de: Du hast dich ausführlich mit Zahlen beschäftigt. Wie viele Fragen empfiehlst du für unser Interview?

Holm Friebe: Auf jeden Fall eine ungerade Zahl. Das gilt auch für Blumen in einer Vase oder Stichpunkte auf einem Präsentations-Chart. Die gerade Anzahl zerfällt unschön in zwei Hälften. Es geht um die gefüllte Mitte. Bei Interviews sollte man eine ungerade Zahl von Fragen stellen. Der Mittelpunkt, das Zentrum genießt dann besondere Aufmerksamkeit. So wie man auch auf einem Präsentations-Chart das Wichtigste in der Mitte platzieren sollte.

Wusstest du vor dem Buch schon viel über Zahlen, oder wolltest du dich selbst mit Angeberfacts ausrüsten?

Ich habe es als Wissenslücke empfunden, dass man in sehr grundlegenden Gestaltungsfragen keine Handhabe hatte. Es gibt viel Literatur über Farbpsychologie, etwa dass man in Krankenhäusern viel Grün nutzen sollte, weil das angeblich beruhigend wirkt. Für die Verwendung von Anzahlen in der Gestaltung gab es so etwas nicht. Aber ich hatte immer den Verdacht, dass solche Gestimmtheiten da auch wirken. Das wollten wir systematisieren.

In meinem Bekanntenkreis galt es eine Zeitlang als lässig, wenig Ahnung von Mathe zu haben. Was hat uns da geritten?

Wir alle haben die Mathematik als Kulturtechnik guten Mutes an die Maschinen delegiert und dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn wir haben auch im Alltag weiterhin dauernd mit Zahlen, Mengen und Größenverhältnissen zu tun. Das holt einen immer wieder ein.

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Die Drei ist immer mit dabei: Jedenfalls wenn es nach wohlgeordneten Verhältnissen aussehen soll (Foto: Anthony Antonellis)

Die Drei ist immer mit dabei: Jedenfalls wenn es nach wohlgeordneten Verhältnissen aussehen soll

(Foto: Anthony Antonellis)

Gibt es heute viel Überforderung mit Zahlen?

Es fängt an mit der Gestaltung. Jeder, der Bilder an der Wand anbringt, wird feststellen: Wenn er drei Bilder nebeneinanderhängt, bekommt das gleich etwas Altarmäßiges. Die klassische Symmetrie läuft oft unfreiwillig auf die kleinbürgerliche Erhabenheit des Gelsenkirchener Barocks hinaus. Aber es geht auch um Gestaltung in einem abstrakteren Sinne: Preisgestaltung. Sicher ist es nützlich, als Konsument im Supermarkt die Wirkung der vielen Neuner-Preise zu verstehen. Und noch ein wichtiges Thema sind Gruppenzusammensetzungen, bei denen elementare Fehler gemacht werden. Angefangen von Tischgesellschaften. Wann kann man sich noch gut unterhalten? Das hört bei sechs Leuten auf, die an einem runden Tisch mit kleinem Durchmesser sitzen, wo sie sich alle noch in die Augen schauen können. Bei allem darüber hinaus zerfallen Gespräche in Zweier- und Dreiergruppen. enden allerspätestens bei 10 Leuten. Da wird aus Naivität viel falsch gemacht und – etwa in der Businesswelt – Kreativität durch schiere Anzahl abgetötet.

Scheint ganz so, als kämen wir besser mit kleinen Anzahlen zurecht. Ist das ein Problem in Zeiten, in denen viele Menschen im Netz Hunderte Freunde haben?

Es gibt einen britischen Anthropologen, Robin Dunbar, der sagt, dass wir aufgrund unserer Gehirnkapazität maximal 150 Menschen im aktiven Arbeitsspeicher halten können –  so dass wir noch wissen, wer sie sind und was sie machen. Was darüber hinausgeht, erscheint uns als amorphe Masse. Dunbar führt das zurück auf steinzeitliche Dörfer. Aber so richtig wissenschaftlich erhärtet ist das nicht. Andererseits gibt es auch anderswo Hinweise, dass wir mit großen Anzahlen überfordert sind, etwa in der Konsumpsychologie. Menschen kaufen weniger, wenn sie sich einem Überangebot ausgesetzt fühlen. Man spricht auch von der Tyrannei der Auswahl.

Ist die moderne Gesellschaft für uns generell eine Nummer zu groß?

Das ist eine philosophische Frage. Die kann man zurückverfolgen bis zu den Anfängen der Soziologie und der Gegenüberstellung der Konzepte „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Ferdinand Tönnies sagte, wir müssen zurück zur Gemeinschaft, zum Dorf, wo wir uns alle kennen und wo wir uns intuitiver Heuristiken bedienen können. Während Max Weber – später Niklas Luhmann – für funktionale Ausdifferenzierungen und Expertensysteme plädierte, weil ein Zurück zur zahlenmäßig überschaubaren Gemeinschaft, in der der Einzelne alles erfassen und beherrschen kann, wohl nicht möglich ist.

Gibt es deshalb heute so viele Infografiken in den Medien, die uns das Unüberschaubare und „Zahllose“ anschaulich machen sollen?

Komplexitätsreduktion, die uns handlungsfähig macht, gibt es in vielen Formen. Etwa auch in Form des Natural-User-Interface unserer Computer, wo wir einen Schieberegler intuitiv bewegen, als sei es ein mechanischer Regler. Aber diese scheinbar einfachen Dinge sind mit Vorsicht zu genießen, weil es sich um simulierte Einfachheit handelt: Ein mechanischer Schieberegler, der abstürzen kann. Wir müssen mit Komplexität leben und sie immer im Hinterkopf behalten.

Sind wir also dazu verdammt, den Mathematikern in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zu vertrauen, dass sie schon richtig rechnen werden?

Ja, denn so ist unsere funktional ausdifferenzierte Gesellschaft nun einmal. Es gibt für alles Experten, auf die sich die Nichtexperten ab einem gewissen Punkt verlassen müssen. Keiner kann mehr alles können. Kürzlich hab ich ein Interview mit einem Mathematiker gelesen, der meinte, um heute State-of-the-art-Mathematik zu betreiben, braucht man einen leichten Asperger-Autismus. Und das können wir anderen uns wohl nicht aneignen. Aber wir brauchen eine Metakompetenz: dass wir ungefähr wissen, was die da machen, wenn die diese supersmarten Algorithmen basteln, die zunehmend die Welt beherrschen.

Welchen Teil davon können wir denn verstehen?

Wir können uns bestimmte Mechanismen ansehen, die uns manipulieren sollen. Etwa die Entscheidungsarchitekturen in der Werbung und im Marketing, die aus Zahlen gebaut werden. Ein Beispiel, wie wir mit Lockvögel-Angeboten (genannt „Decoys“), manipuliert werden: Sobald wir die Fernsehabteilung eines Elektronikmarkts betreten, wird unsere Vorstellung, was ein angemessener Preis für einen Fernseher ist, durch den riesigen 20.000-Euro-Flachbildschirm zertrümmert, der gleich im Eingangsbereich steht. Danach wirken alle anderen Geräte günstig.

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Nicht nur bei 6 Richtigen: Zahlen wecken Emotionen (Foto: Anette Hauschild)

Nicht nur bei 6 Richtigen: Zahlen wecken Emotionen

(Foto: Anette Hauschild)

Haben Zahlen etwas mit „Erzählen“ zu tun? Könnte man aufgrund der Wortgleichheit ja annehmen.

Haben sie in dem Sinne, dass sie eben auch affektiv wirken und uns verführen können. Zum Beispiel mit solchen Angeboten, die nur dazu da sind, unsere Preiswahrnehmung zu verzerren. Gerne werden von einem Produkt auch drei Preiskategorien angeboten, weil wir uns dann mit einem guten Gefühl für das mittlere Angebot entscheiden. Wir humpeln an Krücken durch eine Welt solcher Entscheidungsarchitekturen, in der wir uns rein rational nicht zurechtfinden können. Aber auch beim Erzählen und in der Dramaturgie, etwa in der Struktur des griechischen Dramas, spielen Zahlen eine große Rolle. Und im Journalismus gilt der rhetorische Dreiklang: Eins ist keins, zwei Beispiele können Zufall sein, drei sind viele – drei Belege sind ein Beweis.

Wie kommt diese Durchsetzungsmacht der Zahlen in der Politik zum Tragen?

Ob da viel manipuliert wird, kann ich nur mutmaßen. Generell gibt es für die Wahrnehmbarkeit von Zahlen kritische Schwellen. Wenn es zum Beispiel 13-stellig wird beim Schuldenstand, dann hat das eine neue Qualität. Das Problem ist, dass es in der Volkswirtschaft oft um Größenordnungen geht, die unsere Vorstellungskraft sprengen. So richtig auskennen tun sich in diesen Regionen dann nur noch Mathematiker, Banker und Finanzpolitiker. Auch Journalisten finden sich nicht mehr zurecht. Das merkt man daran, dass die englische Billion häufig als Billion übersetzt wird, nicht als Milliarde – selten fällt das auf. In diesen Dimensionen versagt die intuitive Anschauung.

Die Zahlen, von denen in öffentlichen Debatten die Rede ist, sind oft eher niedrig und erscheinen handhabbar. Zum Beispiel das Zwei-Grad-Ziel bei der Erderwärmung und die Defizitgrenze von drei Prozent in der EU.

Solche symbolisch aufgeladenen Schwellenwerte haben in der Politik eine große Bedeutung. Mittlerweile muss man nur noch „zwei Grad“ sagen, und alle wissen, dass das etwas mit Klima zu tun hat. So lassen sich Zahlen auch zu politischen Marketing- und Lobbyinstrumenten machen.

Hat der Zahlenname „Agenda 2010“ geholfen, das dahinterstehende politische Programm der SPD unter Schröder durchzusetzen?

Nun gut, wenn es in der Politik zu sehr nach Marketing riecht, kann das auch zurückschlagen. In dem Fall hat man schön beobachten können, dass solche Begriffe schnell mit Gegenbegriffen gekontert werden. Was hängen geblieben ist, war nicht „Agenda 2010“, sondern „Hartz IV“.

Wo wir schon bei der Schröder-Ära sind: Gerhard Schröder ist im Wahlkampf 1994 ja zusammen mit Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping als Dreierteam angetreten. Wie wichtig war dabei die Drei?

Da kommen wir ins Zentrum der Gruppenpsychologie und der kulturellen und symbolischen Aufladung von Zahlen. Die Drei verweist zunächst mal auf die göttliche Ordnung im Christentum – die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dreierkonstellationen werden schon deshalb weniger angezweifelt. Sie wirken wie vom Himmel gefallen. Aber wie man bei Schröder, Lafontaine und Scharping sehen konnte, ist die Drei als Gruppe auch eine instabile Konstruktion. Da entsteht schnell die Konfliktlinie zwei gegen einen.

 

Sind also in Wirklichkeit aller guten Dinge vier?

Tatsächlich ist die Vier eine stabilere Gruppenkonstruktion, weil sie ausgeglichener ist. Da bilden sich meist zwei Zweierteams. Das ist die klassische Band-Konstellation aus Gitarrist, Sänger, Schlagzeuger und Bassist. Wie schon bei den Beatles und den Rolling Stones. Auch ist die Vier eine geeignete Größe, um bereits ein hinreichendes Meinungsspektrum zu repräsentieren und ein gutes Gespräch zu führen. Das kann man gut am Beispiel von TV-Sendungen wie dem „Literarischen Quartett“ sehen. Das Problem der Viererkonstellation wiederum ist, dass es leicht Pattsituationen von zwei gegen zwei gibt. Man kann mit vier Personen gut diskutieren, aber zum Entscheiden ist eine ungerade Zahl dann doch besser.

So wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, als es mit CDU/CSU, SPD und FDP fast immer im Wesentlichen eine Dreierkonstellation im Parlament gab?

Ja, da kann man gut sehen, wie die Dreierkonstellation funktioniert und wie darin taktiert wird. Es gibt darin immer den, wie man sagt, „lachenden Dritten“ beziehungsweise das „Zünglein an der Waage“. Und das war lange Jahre die FDP.

In der Politik wird viel quantifiziert. Kann man nur noch auf der Grundlage von Zahlen gute Entscheidungen fällen?

Unsere Gesellschaft ist eben so komplex, dass sie sich im Ganzen nur noch numerisch beschreiben lässt. Der Soziologe Niklas Luhmann hat das sehr schön mit einem Bild beschrieben: Wir sitzen in einem U-Boot und haben nur noch irgendwelche Hebel und Anzeigeinstrumente zur Verfügung. Wir wissen eigentlich nicht, was da draußen wirklich los ist. Und so wird Gesellschaft gesteuert anhand von Schlüsselgrößen wie etwa der Inflationsrate. Das ist eine vollkommen willkürliche Größe, die davon abhängt, wie der typische Warenkorb gebaut wird. Oder das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das gern als Wohlstandsindikator herangezogen wird. Solche Zahlen, die bis auf viele Nachkommastellen erhoben werden, kreieren die Illusion von Kontrollierbarkeit. Aber wenn man mal den Deckel aufmacht, sieht man, was für schwammige Konzepte das sind. Jeder Autounfall vergrößert das BIP, weil dadurch die Werkstatt, die Ärzte oder gar Bestattungsunternehmer zu tun bekommen. Umgekehrt: Wenn Nachbarschaftshilfe geleistet wird, fällt das durchs Raster und reduziert das BIP. Kurzum: Was das Leben beeinträchtigt und was es lebenswert macht, wird durch diese Zahl nicht unbedingt abgebildet.

Gibt es dafür geeignetere Zahlen, oder müssen die erst noch erfunden werden?

Es gibt Versuche, Aspekte wie Gesundheit und persönliche Zufriedenheit auf einen universellen Glücksperformance-Indikator zu bringen, der dann an die Stelle des BIP treten soll. Ich bin da aber misstrauisch, weil das genau diese Kontrollillusion der verwalteten Welt überträgt auf etwas, das sich eben nicht zahlenmäßig steuern lässt.

Sollten Politiker dann besser doch mit dem Bauch als mit Kopf und Zahlen entscheiden?

Jedenfalls gibt es bestimmte Wahrheiten wie Lebenszufriedenheit, die für Politiker nur im Gespräch mit Bürgern erfassbar sind. Man muss aus dem U-Boot der Zahlensteuerung aussteigen, um tatsächlich zu ermitteln, wie es den Leuten geht. Soweit das für Spitzenpolitiker möglich ist. Aber das erscheint mir immer noch tragfähiger als alle nebulösen Versuche, solche Aspekte des Lebens mathematisch zu aggregieren zu einem Glücksindex.

Misstrauisch kann man aber auch werden, wenn es bei Bauchentscheidungen bleiben soll. Die trifft immer einer. Ist es am Ende nicht doch demokratischer, wenn es eine Zahl gibt?

Ich denke, nein. Demokratischer ist, wenn einer die Entscheidung trifft und dann alle anderen hinterher darüber abstimmen, ob sie das gut und richtig fanden und ob sie den Entscheidern noch mal eine Amtszeit gewähren wollen oder nicht. Besser geht es nicht.

Aber rein zahlenmäßig steht man als Wähler in modernen Demokratien ja oft auf verlorenem Posten. In Deutschland ist man gerade mal einer von gut 64 Millionen, die ihre Stimme abgeben können.

Da kommen wir wieder zu der Tönnies-Weber-Frage: Gibt es optimale Größen für Gemeinwesen? Aber wir fühlen uns ja eben nicht nur als Bürger des nationalen Gemeinwesens. Parallel zur Entwicklung superstaatlicher Gebilde wie der EU und der UNO gibt es heute als Gegenbewegung den Bedeutungsrückgewinn des Lokalen und Kommunalen. Ich rate dazu, dass man sich auf der politischen Handlungsebene besser als Berliner, Hamburger oder Heidelberger sieht und sich auf der Ebene politisch engagiert. Denn dort kann man eine unmittelbare Resonanz des eigenen Tuns erleben.

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cms-image-000045613.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Der Journalist und studierte Volkswirt Holm Friebe ist Geschäftsführer der virtuellen Firma „Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA)“ und Gründer des Weblogs „Riesenmaschine“. Mit Sascha Lobo schrieb er das Buch „Wir nennen es Arbeit“ und brachte darin das Phänomen der digitalen Bohème auf den Begriff. Nebenbei arbeitet er als Dozent für Designtheorie an Kunsthochschulen.