Thema – Erinnern

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„Heute Nacht wirst du kämpfen, Bitch!“

Im Juni 1969 wehrte sich die queere Szene in der New Yorker Christopher Street gegen Polizeigewalt. Martin Boyce war mit dabei

Polizisten verprügeln Demonstranten bei der Gay Pride

In der Nacht zum 28. Juni 1969 stürmten Polizisten die Bar „The Stonewall Inn“ in der Christopher Street, Greenwich Village, New York. Es war bei weitem nicht der erste Fall von Polizeischikane gegen Schwule, Lesben, Dragqueens und Transsexuelle. Aber das erste Mal, dass sich diese so lautstark wehrten und die breite Öffentlichkeit aufhorchte. Die Aufstände dauerten mehrere Tage und gelten als Wendepunkt im Kampf um Gleichberechtigung, der jedes Jahr am Christopher Street Day – auch Stonewall Day oder Gay Pride genannt – gefeiert wird.

Martin Boyce war damals 20 Jahre alt und nahm als „Queen“ an den Protesten teil. Der Begriff „Queen“ hat seine Bedeutung im Laufe der Jahrzehnte verändert: Heute versteht man darunter meist Dragqueens oder Transgender. Im Jahr 1969 wurde er aber auch für feminin wirkende Männer verwendet oder einfach als Bezeichnung schwuler Männer untereinander.

fluter.de: Du hast an den Stonewall-Aufständen im Juni 1969 teilgenommen. Wie kam es dazu?

Martin Boyce: Ich war im Greenwich Village auf dem Weg zum Stonewall Inn, gemeinsam mit meinem Freund Bertie. Wir trafen einen Bekannten und unterhielten uns, als jemand hinter mir etwas von einer Razzia sagte. Das Stonewall war nur einen Block entfernt, also gingen wir hin. Das machte man immer so: War man nicht selbst von einer Razzia betroffen, ging man hin, um sie sich anzugucken. An diesem Abend wurden erst die stolzen Queens aus dem Stonewall geführt, dann auch Leute, die sich sichtlich schämten.                     

 „Plötzlich entstand diese Stille. Man fühlte etwas aufkommen, wie einen Sturm. Und dann kam polizeiliche Verstärkung.“

Was war dieses Mal anders?

Ein Polizist kam auf uns zu, schaute uns an, sagte: „Okay, das war’s, ihr habt die Show gesehen. Jetzt verschwindet hier!“ Dann drehte er sich um. Wir folgten sonst immer den Anweisungen der Polizei. Dieses Mal nicht.

 

Was habt ihr stattdessen getan?

Die Leute haben begonnen, mit allem auf die Polizei zu werfen, was sie in die Finger bekommen konnten, Flaschen, Steine, Müll. Bertie war immer streitlustig, und ich sagte normalerweise: „Tu das nicht, halt dich zurück!“ Aber diese Nacht war Berties Nacht. Er sagte zu mir: „Heute Nacht wirst du kämpfen, Bitch!“ Ich hatte fast mehr Angst vor Bertie als vor der Polizei!

 

Die Polizei war von dem starken Widerstand völlig überrascht und zog sich in die gerade geräumte Bar zurück.

Plötzlich entstand diese Stille, man konnte beinahe die berühmte Stecknadel fallen hören. Man fühlte etwas aufkommen, wie einen Sturm. Und dann (Martin Boyce schlägt mit der Faust rhythmisch auf den Tisch) kam polizeiliche Verstärkung. Bewaffnet bis an die Zähne.

 

Mit der Bereitschaftspolizei habt ihr euch stundenlang Kämpfe und ein Katz-und-Maus-Spiel in den Straßen des Village geliefert.

Ich war voller Adrenalin. Später in der Nacht saß ich erschöpft auf den Treppenstufen eines Hauseingangs. In einem anderen Hauseingang saß eine weitere Queen. Und nicht weit entfernt lehnte ein Polizist erschöpft an einem Zaun. Keiner hat dem anderen mehr was getan.

Vor 50 Jahren war in 49 von 50 US-Bundesstaaten gleichgeschlechtlicher Sex verboten. Die Polizei setzte Spitzel und Undercoveragenten ein, um Homosexuelle zu überführen: Wer mit ihnen flirtete, riskierte, festgenommen zu werden. Gegen Transgender und Transvestiten gerichtet war ein Gesetz, das vorschrieb, mindestens drei Kleidungsstücke zu tragen, die dem zugeschriebenen Geschlecht entsprechen

Das soziale Leben in Bars und Kneipen wurde durch die staatliche Alkoholbehörde SLA eingeschränkt. Um eine Ausschanklizenz zu bekommen, mussten Bars nachweisen, dass sie „ordentlich“ geführt waren. Für die SLA war eine Bar, die Homosexuelle zu ihren Gästen zählte, automatisch nicht „ordentlich“.

Ein Grund für den Widerstand waren die häufigen Polizeischikanen und Razzien in den Bars. Hast du das auch erlebt?

Ja. Ein Beispiel: Im „Tenth of Always“ wurde kein Alkohol ausgeschenkt, aber es gab eine gute Jukebox, deshalb konnten wir tanzen. Obwohl es folglich gar keinen Grund gab, wegen eines Verstoßes gegen die Schanklizenz eine Razzia durchzuführen, war das Lokal auf so eine Situation vorbereitet. Sobald das Licht flackerte, ging die Musik aus, alle hörten sofort auf zu tanzen und setzten sich irgendwo hin.

Was passierte dann?

Die Polizisten kamen rein. Der Detective sah aus wie Orson Welles und rauchte eine Zigarre. Er war furchteinflößend, wie eine Bulldogge. Er schaute jeden von uns an mit diesem durchdringenden Blick. Eigentlich wussten wir, dass er sich unmöglich an alle von uns erinnern konnte. Aber vielleicht wollte er, dass wir uns an ihn erinnern? Mehr passierte nicht, sie gingen wieder, die Musik spielte wieder. Das war ein vergleichsweise harmloser Fall, es wurden keine Ausweise oder Ähnliches kontrolliert. Man wollte uns aber Angst machen.         

Was konnten die Konsequenzen einer Razzia sein?

Wer keinen Ausweis dabeihatte, musste damit rechnen, abgeführt zu werden. Dann wurde eventuell der Arbeitgeber benachrichtigt oder die Eltern, wenn man jung war. Wir fanden das irgendwie aufregend und fühlten uns ein bisschen wie in der Résistance, wie im Widerstand. Gegen uns standen all diese Gesetze, und wir waren stolz darauf, wie wir der Polizei entkamen.

 

Eine wesentliche Rolle bei dem Aufstand spielten Jugendliche, deren Lebensmittelpunkt die Straße war. Wie kamst du mit ihnen in Kontakt?

Als ich 16 war, traf ich mich mit Freunden oft im Central Park. Dort lernte ich andere kennen, die mich mit ins „Village“ nahmen. Rund zwei Jahre vor Stonewall hatte ich auch dort einen Freundeskreis.

„Wenn man zwei oder drei Nächte fehlte, dachten alle, man wäre tot. Alle hatten so viel zu erzählen: ‚Hast du schon gehört? Der oder der wurde verhaftet!‘“

 

Wie oft warst du im Village?

Im Sommer so oft wie möglich. Jede Nacht. Denn wenn man eine Nacht aussetzte, hatte man schon viel verpasst. Und wenn man zwei oder drei Nächte fehlte, dachten alle, man wäre tot. Alle hatten so viel zu erzählen: „Hast du schon gehört? Der oder der wurde verhaftet! Und der oder der hat sich mit seinem Freund auf offener Straße geprügelt!“ So ging es die ganze Zeit.

 

Wann wurde dir klar, dass Stonewall eine so große Bedeutung bekommen würde?

Ein Jahr nach den Aufständen, als aus diesem Anlass in New York eine große Demonstration organisiert wurde.

 

Hast du daran teilgenommen?

Ja. Bertie und ich hatten gehört, dass es einen Protestzug geben würde. Also sind wir zum Washington Square Park gegangen – doch fanden wir dort nur ganz wenige Demonstranten vor. Ich war sehr nervös und habe sogar eine Valium genommen, um mich zu beruhigen. Doch dann kamen immer mehr Leute. Als wir an der 23. Straße vorbeiliefen, sah ich diesen sehr gut aussehenden blonden Typen. Er schaute sich den Protestzug erst nur an, gab sich dann aber einen Ruck und lief mit uns mit. Alle haben ihn umarmt. Frauen winkten uns aufmunternd aus den Fenstern zu. Wir bekamen genug Unterstützung, um uns wohlzufühlen.

 

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Martin Boyce vor dem Stonewall Inn (Foto: Tobias Sauer)

50 Jahre später: Der heute 71-jährige Martin Boyce vor dem Stonewall Inn, wo der Kampf um Gleichberechtigung einst dutzende Dezibel lauter wurde. Die Bar hat täglich geöffnet, Donnerstag ist Karaoke-Night

(Foto: Tobias Sauer)

Vor ein paar Jahren wurde ein Buch veröffentlicht, das die Erfolge der queeren Bürgerrechtsbewegung im Titel als „Victory“ bezeichnet, als „Triumph“. Kommt das hin?

Es gab ja eigentlich gar keinen Raum für einen Fehlschlag. Wie schlecht hätten die Dinge noch werden sollen? Man kann aber in meinen Augen dennoch von einem Triumph sprechen, weil all die Veränderungen seither gegen so viel Widerstand erfochten wurden. Trotz konservativer Gegner, trotz der Aids-Epidemie. Die Vorzeichen sahen gar nicht gut aus.

 

Was bedeutet Stonewall für dich persönlich?

Ich bin stolz, dass ich mit Bertie gekämpft habe und – anders, als ich dachte – kein Feigling war. Heute ist Stonewall für mich ein Verb, eine Aufforderung zur Tat. Wir werden mit Rückschlägen umgehen können, denn wir sind darin trainiert. Wir sollten wachsam sein, aber nicht verängstigt. Wir sollten uns auf den Kampf konzentrieren, nicht auf die Angst.

 

Aus dem Englischen übersetzt

Titelbild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Anonymous

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