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Unbestimmbar

Kein Körper, aber ein Geschlecht: Was Sprachassistenten wie Siri und Alexa über Genderrollen verraten – und wie das dänische Projekt „Q“ das ändern will

GIF: Raúl Soria

„Bakra, okra, oats, shreding, shroding, shriding“ – diese unzusammenhängenden Worte und Laute zeichnet Synchronsprecherin Susan Bennett im Sommer 2005 einen Monat lang auf. Tag für Tag, vier Stunden lang. Beauftragt wurde sie von einem Unternehmen namens Scansoft. Sechs Jahre später stellt Apple seine Sprachsteuerung vor. Bennett ist – ohne es zu wissen – zu Siri mutiert. Aus ihren Wortfetzen wurde eine Stimme gebaut, die Millionen Nutzern tagtäglich dient. Apple bestätigt die Existenz von „the original voice of Siri“, wie sich Bennett heute ihren zwei Millionen Twitter-Followern vorstellt, nicht. Siri soll es nicht real geben, sondern nur im Computer. Ohne Körper, aber bitte mit hoher Stimme.

Die digitalen Dienstmägde der Gegenwart

Apple schweigt zu der Frage, warum Siri in der Standardeinstellung als weibliche Stimme zu uns spricht. Amazon ist da auskunftsfreudiger: Man habe in Studien herausgefunden, dass die weibliche Stimme wohlwollender klingt und allgemein besser aufgenommen wird, sagen die Erfinder von Alexa.

Dass die moderne Sprachassistenz vor allem in den oberen Tonlagen spricht, bemängeln Kritiker schon länger. Sie seien die „digitalen Dienstmägde der Gegenwart“; durch sie würden sich Rollenklischees und Geschlechterzuschreibungen verfestigen. Weibliche Stimmen erinnern uns säuselnd ans Einkaufen oder den Geburtstag des Onkels. Die großen Tech-Konzerne nahmen die Kritik an ihrem Faible für weibliche Stimmen auf und stellten ihnen nach und nach männliche Sprecherkollegen an die Seite. Wer sich durch die Einstellungen seines Smartphones klickt, wird heute irgendwann vor der Entscheidung stehen: Soll mir eine Frauen- oder eine Männerstimme assistieren? 

Einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, Sounddesigner*innen und Aktivist*innen aus Dänemark ist die Einteilung in zwei Geschlechter nicht genug. Daher haben sie „Q – The World’s First Genderless Voice“ programmiert. Zwischen „männlich“ und „weiblich“ tut sich eine weitere Option auf. Die Gruppe aus Dänemark hat Stimmen von fünf Menschen aufgenommen, die sich selbst irgendwo zwischen Mann und Frau einordnen. Anschließend bearbeiteten sie die Frequenzen so, dass sich die Schallwellen genau zwischen den üblichen Schwingungen der männlichen und weiblichen Stimme bewegen. Das verbesserten sie so lange, bis die 4.600 Testhörer*innen nicht mehr sagen konnten, ob sie von einer Frau oder einem Mann angesprochen wurden.

Meet Q: The First Genderless Voice

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Gleichberechtigt durch Technik

Die geschlechtlose Stimme ist eine Rückbesinnung auf die Anfänge eines Cyberfeminismus, der seit den 80er-Jahren davon ausging, dass neue Technik auch Geschlechterrollen neu definieren kann. Allein in Deutschland nutzen heute schon 35 Millionen Menschen digitale Sprachsteuerung. Es gilt als so gut wie sicher, dass wir in Zukunft kaum noch auf Tastaturen tippen, sondern durch unsere Stimme die digitalen Geräte steuern werden.

Wieso gibt es dafür noch keine „stimmliche Darstellung eines sächlichen oder apparatischen Geschlechts?“, fragte der Soundforscher Holger Schulze kürzlich. „Q“ will daran erinnern, dass neue Technik auch Spielraum für Emanzipation geben kann.

Mit der Erfindung des Telefons wurden um 1900 plötzlich Zehntausende Menschen gebraucht, um die Verbindungen herzustellen. Schnell übernahmen die „Fräulein vom Amt“ den Job, weil ihre höheren Stimmlagen am Telefon besser verständlich waren. Das bedeutete zwar einfältige Arbeit, die – na klar – von Frauen erledigt werden sollte. Für die Telefonistinnen war es aber auch die Möglichkeit, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen. In vorher unbekanntem Ausmaß entstand bezahlte Arbeit für Frauen. Und damit eine neue Wirklichkeit.

Übrigens:

Cyberfeministische Ansätze gibt es seit den frühen Neunzigern: Donna Haraway schrieb in ihrem Essay „A Cyborg Manifesto“ (1983) als Erste über „Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s“, ihr folgten die Videokünstlerin Lynn Hershman Leeson, das Künsterinnen-Kollektiv VNS Matrix und andere Denkerinnen, Programmiererinnen und Medienkünstlerinnen aus Nordamerika, Australien, Deutschland und Großbritannien, die sich im World Wide Web zu etablieren begannen und untereinander vernetzten. 

GIF: Raúl Soria

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.