Neulich fuhr ich abends mit dem Bus. Beim Einsteigen zeigte ich dem Fahrer meinen Schwerbehindertenausweis zusammen mit dem "Beiblatt mit Wertmarke", damit kann ich in öffentlichen Verkehrsmitteln umsonst fahren. Dem Mann entfuhr: "Noch so jung, und schon einen Schwerbehindertenausweis!" Ich frotzelte zurück:"Und stellen Sie sich vor, ich bin seit dreißig Jahren im Geschäft!" Tatsächlich habe ich den Ausweis als kleines Mädchen nach einer Lungenoperation bekommen. 

Gemäß Paragraf 2, Abs. 1, Sozialgesetzbuch IX stellte das Versorgungsamt damals fest, dass ich ab sofort zu 70 Prozent "schwerbehindert" war. Absurderweise ging es mir nach dieser Operation viel besser als die Jahre zuvor. Aufgrund einer seltenen Gefäßkrankheit bin ich von Geburt an gehandicapt – mein Lymphgefäßsystem ist unterentwickelt. Das Lymphwasser kann zum Teil nicht richtig abfließen und beeinträchtigt dann andere Organe. Manchmal war ich, manchmal bin ich traurig darüber. "Schwerbehindert" habe ich mich nie gefühlt.

Ich mag den Begriff nicht, schließlich bin ich weder "doof" noch "bescheuert", denn das ist gemeint, wenn wir jemanden beschimpfen: "Du bist behindert!" Davon abgesehen, "behindert" mich mein Handicap in vielen Lebensbereichen kein bisschen. Aber die Behördensprache walzt mit diesem Begriff behäbig und grob über meine Existenz und macht sie platt. Obwohl es noch schlimmer geht. Im Englischen dominiert die Bezeichnung "disabled". Streng genommen, wird hier unterstellt, dass ein Mensch zu etwas gar nicht in der Lage ist, und nicht nur, dass ihn etwas – hindert. Politisch sehr korrekt, aber wohltuend klingt die amerikanische Variante "physically challenged".

Manche halten es für Wortklauberei, wenn ich für "gehandicapt" plädiere – so sagt man in den Niederlanden. Aber die Bezeichnungen offenbaren vier Blickwinkel. Sprache schafft Wirklichkeit. Wegen meines Handicaps kam ich früher beim Rennen und Spielen leichter außer Atem als andere Kinder. Ich war immer zierlich und blass wie Schneewittchen, häufiger krank als andere und musste bis zum Abitur nicht am Sportunterricht teilnehmen. Für mich war das normal, ich kannte es nicht anders. Es war selbstverständlich, immer wieder zu erklären,warum ich nur langsam Fahrrad fuhr oder nicht rumklettern durfte. Ich kann mich nicht erinnern, ein einziges Mal gehänselt worden zu sein. Nicht einmal in der siebten Klasse, als ich, zudem noch ausgestattet mit Stützkorsett, Zahnspange und Brille, aussah wie Chucky,die Mörderpuppe. Lag ich nicht gerade krank im Bett, gehörte ich dazu wie alle anderen auch. 

Schon möglich,dass ich manchmal ehrgeiziger oder extremer war als andere,wohl auch, um keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass ich dazugehöre: Ich galt erst als eine besonders gute und brave Schülerin und dann, als es die Coolness der Pubertät erforderte, als extra aufsässige und schlechte.Über mein Handicap habe ich bewusst nie mehr als nötig gesprochen. 

Mir wurde schnell klar,dass eine kurze, sachliche Schilderung meiner Situation am wenigsten Aufsehen erregte und auch für meinen seelischen Zustand das Beste war. Heute erschüttert mich so eine Reaktion nicht mehr so sehr, aber früher kam mir mein Handicap sofort dramatischer und schwerer vor, wenn ich bei anderen Verunsicherung oder – ganz schlimm – Mitleid spürte. So ging es mir, als ich mit siebzehn erforschte, was das "Merkzeichen G" in meinem "Schwerbehindertenausweis" bedeutet. Es dauerte Monate, bis ich die gesetzliche Definition einigermaßen verdaut hatte: "G" wie "gehbehindert". Das bedeutet: Meine Gehfähigkeit wird in etwa so eingeschätzt wie die eines Unterschenkelamputierten. Ich machte gerade den Führerschein, sparte für mein erstes Auto, sang in zwei Bands und wollte nach dem Abitur Gesang studieren. Als meine Ärzte mir vom Gesangsstudium abrieten, akzeptierte ich das und entschied mich für Germanistik. 

Ob und wie mir das Handicap oder der "Schwerbehindertenausweis" später beruflich im Weg stehen könnte, darüber habe ich nicht eine Sekunde nachgedacht. Vielleicht, weil ich zu einer Haltung gegenüber dem Ausweis gefunden hatte: ihn als ein Stück Papier zu betrachten, das ich nicht verstecken muss. Grün-orangefarbenes Papier, das mir ein paar finanzielle Vergünstigungen verschafft, ansonsten aber mit meiner Lebensrealität wenig zu tun hat. Man kann es phlegmatisch nennen, dass ich beim Start ins Berufsleben mit Paragraf 71 (und folgenden), Abs.1,Sozialgesetzbuch IX schlecht vertraut war. Dass ich nicht wusste, dass man bei Bewerbungsgesprächen seine "Schwerbehinderteneigenschaft" ungefragt nicht erwähnen muss; dass für "Schwerbehinderte" ein besonderer Kündigungsschutz gilt; dass Arbeitgeber eine gesetzliche Beschäftigungspflicht gegenüber "Schwerbehinderten" haben – von der sie sich allerdings jedes Jahr bequem freikaufen können. 

Der Staat will die 6,6 Millionen Menschen, die in Deutschland einen Ausweis mit dem Vermerk "schwerbehindert" mit sich herumtragen, durch diese Gesetze schützen. Ob es ihm so gelingt, weiß ich nicht. Ich jedenfalls habe mich ab und zu schon gefragt, ob Festanstellungen an mir vorbeibesetzt wurden, weil ich nicht qualifiziert oder weil ich bekennend "schwerbehindert" war. Meine Selbstständigkeit hat viele Vorteile.Ich fühle mich nicht "schwerbehindert". 

Martina Koch lebt und arbeitet als freie Journalistin in München.