Philipp Winkelbauer lebt den deutschen Traum. Der 17-jährige Realschüler, der in dem thüringischen Ort Rudolstadt lebt, 60 Kilometer entfernt von Erfurt, 280 Kilometer von Berlin, lässt sich von der provinziellen Kulisse nicht einschränken, den dunklen Hügeln des Thüringer Waldes, den Busendhaltestellen, dem kleinen Zeitungskiosk an der Hauptstraße, der einem nichts von der Welt erzählt. Zu den größten Arbeitgebern von Rudolstadt gehören die alte Porzellanmanufaktur, das Rolschter Brauhaus und BASF Performance Polymers. Die Arbeitslosenquote liegt über dem Bundesdurchschnitt, und der Horizont ist eng. Aber wenn Philipp Winkelbauer aus dem Plattenbau tritt, in dem er mit seiner Familie wohnt, und die Straße hinabblickt, hat er trotzdem das Gefühl, dass ihm alle Optionen offen stehen. „Ich glaube daran, dass man in Deutschland alles erreichen kann“, sagt Philipp, „egal wie hoch das Startkapital ist.“ Deutschland ist für Philipp das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Oder besser: der Teil Deutschlands mit Breitband- Internetzugang. Philipp hat wie seine Altersgenossen in den vergangenen Monaten für die Mathe-Abschlussprüfung der 10. Klasse gelernt und auf regenfreie Sommertage im Freibad gehofft. Nebenbei hatte er aber auch regelmäßig E-Mail- Kontakt zu einer Elektrofabrik in der chinesischen Provinz Guangdong, und verhandelte per Skype mit Holzplantagenbesitzern in Thailand, deren Teakholz er exklusiv in Deutschland, Tschechien und der Ukraine vertreibt. Im Netz nennt sich Philipp übrigens Bizman Tng – der Geschäftsmann aus Thüringen benutzt Englisch, „weil in China ja die wenigsten Leute Deutsch sprechen“.

Wer in Entwicklungsländern produzieren lassen will, sollte darauf achten, wie die Arbeitsbedingungen dort sind

Philipp war natürlich noch nie in Guangdong und auch nicht in Thailand. Den Kontakt zu seinen Geschäftspartnern hat er über die Webseite Xing hergestellt, auf der Firmen und Unternehmer aus aller Welt über Absatzmärkte und Vertriebskanäle diskutieren, Angebote prüfen und vergleichen und nach Kunden und Herstellern suchen. Business-to-Business (B2B) nennen sich solche Plattformen, auf denen Geschäftsleute unter sich sind und die viele Reisen ersetzt haben. Noch vor zehn Jahren hätte Philipp mit Diplomaten, Parteikadern in China und Banken sprechen müssen, um einen Kontakt zu einem chinesischen Fabrikanten herzustellen. Heute schreibt er einfach eine Mail. Webseiten wie Xing, LinkedIn oder – in Philipps Fall – das brancheninterne Forum der Holzwirtschaft dienen jungen Wirtschaftsfreaks als Netzwerk- Schule und virtuelles BWL-Seminar. Philipps Karriere begann im Jahr 2007, als der Internetfan im Netz 15 iPhones für Freunde und Familie bestellen wollte und dabei in den Foren und Cyber-Konferenzräumen so einiges über Rabatte, Vertriebskosten und Währungen lernte und „irgendwann eine Idee davon bekam, wo es Wer braucht schon noch eine große Fabrik? Unser Zeichner Frank Höhne jedenfalls nicht hingehen könnte“. Die B2B-Plattformen sind nur ein Beispiel dafür, wie die Entwicklung neuer Technologien es auch kleinen Firmen und Einzelpersonen ermöglicht, in der globalisierten Welt ein Wörtchen mitzusprechen. Im 21. Jahrhundert kann jeder ein Global Player sein.

„The world is flat“, so beschrieb der amerikanische Journalist Thomas Friedman im Jahr 2005 das globalisierte Wirtschaften und Denken. Früher standen Meere und Berge zwischen Punkt A und Punkt B, heute trennt nichts mehr Rudolstadt und Guangdong, über die globale Ebene kann man weit sehen und nach allem greifen. Die flache Welt erlebt man am besten auf Webseiten wie Alibaba.com, einem Portal, auf dem man in Kontakt mit chinesischen Fabrikanten treten kann. Alibaba erleichtert es zum Beispiel jungen Designern, einen Fabrikanten zu finden, der ihre Pläne in Prototypen umsetzen kann. Das Gespräch läuft über E-Mail und Instant Messenger, der Deal wird über PayPal und Kreditkarte abgewickelt – plötzlich ist es ebenso einfach, die Fließbänder in China in Gang zu setzen, wie eine CD bei Amazon zu bestellen. Wenige Wochen nach der Bestellung steht das Produkt vor der Tür, dann kann man entscheiden, ob und wo es in Serie gehen soll.

Bei dieser Frage stehen für viele Internetunternehmer auch Überlegungen über Arbeitsbedingungen an, schließlich besteht vor allem bei billigen Produktionsmöglichkeiten immer die Gefahr, dass in den Fabriken unter menschenunwürdigen Bedingungen gearbeitet wird oder Kinder zum Einsatz kommen. Dann stünde der eigenen Freiheit als Unternehmer im Web 2.0 die Unfreiheit der modernen Arbeitssklaven in der Dritten Welt gegenüber. Philipp Winkelbauer hat die Erfahrung gemacht, dass man im Internet nie genau weiß, wer am anderen Ende der Leitung steht, weshalb er bei Auswahl der Handelspartner darauf achtet, dass diese nicht auf den schwarzen Listen von Greenpeace und anderen NGOs auftauchen. „Fair Trade ist ein großes Thema für mich.“ Einen Teil seiner Umsätze mit der Teakplantage spende er deshalb auch an soziale Projekte in Thailand. Auch die Webseite Samasource.org will den Unternehmergeist am einen Ende der Welt mit der Unterbeschäftigung am anderen zusammenbringen und ermöglicht es Firmen, einfache Büroarbeiten wie das Erstellen von Excel-Tabellen von Computerarbeitern in Kenia oder Indien durchführen zu lassen. Das Projekt Give Work schaffe Arbeitsplätze, so wirbt Samasource. org und verspricht, dass das Outsourcing im kleinen Maßstab sowohl die eigene Produktivität erhöhe als auch armen Menschen ermögliche, eine Einkommensmöglichkeit und neue Lebenschancen über das Internet zu erhalten.

Seine Eltern träumten von einem 13. Jahresgehalt und einer Betriebsrente für ihn

Das frühe 21. Jahrhunderts könnte also so etwas wie die Gründerzeit 2.0 sein. „Das Internet hat die Kosten für ein Startup zusammenfallen lassen“, schreiben Jason Fried und David Hansson in ihrem Buch „Re-Work“, „und das gilt nicht nur für das Internet selbst. Die Gesetze des Webs, die Dynamik und niedrigen Fixkosten gelten zunehmend auch in der realen Wirtschaft. Früher musste man, um ein Unternehmen zu gründen, ein Gebäude mieten und eine Verwaltung aufbauen. Heute, so Fried und Hansson, könne man Mitarbeiter wie externe Designer oder Programmierer je nach Bedarf zuschalten und sich oft gar den Büroraum sparen. „Positive wirtschaftliche Effekte“, sagt Rolf Sternberg, Professor für Wirtschaftsgeografie an der Universität Hannover, also Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze, seien aber nur bei „wissensintensiven und wachstumsstarken Start-ups zu finden“. Michael Wiggenhorn hat so eine wissensintensive Firma gegründet – mitten in der Krise: Coriolis, ein Pharma-Service- Unternehmen mit zwölf Mitarbeitern und Sitz in Martinsried. Die Firma hat eine Methode entwickelt, Medikamente haltbarer und transportfähiger zu machen. In dieser Branche braucht man Spezialisten und teures Hightech-Material. „Jetzt ist die Zeit, um zu investieren“, sagt Wiggenhorn. „Krusten brechen auf. In den Unternehmen nimmt der Druck zu, sich zu verändern.“ Auf der ganzen Welt suchen Menschen und Firmen nach der neuen Killer-Applikation, innovativen Logistiksystemen und Vertriebsmodellen, eben the next big thing. In diesem Szenario, so Experten, bilden sich neue Spielräume für neue Spieler. Wiggenhorn ist beim Blick in die Auftragsbücher gut gelaunt. „Das Geschäft läuft.“

Ideen sind in Deutschland viele vorhanden, meint der Wirtschaftsgeografieprofessor Rolf Sternberg. Oft fehlt eben das Geld. „Die Finanzierung ist eines der wichtigsten Hindernisse der Gründung.“ Deutsche Banken sind als knausrig bekannt, wenn es um Kredite für Firmengründer geht, und das hat sich durch die Bankenkrise nicht verbessert. Firmengründer müssen nach Investoren suchen und sich im Dschungel der Förderprogramme und Gründerpreise zurechtfinden. In den USA ist der Unternehmer eine mythische Gestalt. In Deutschland scheut man das Risiko und die Unsicherheit. Auch die Eltern von Philipp bestanden darauf, dass er etwas Anständiges lernt, bei einem großen Konzern, der Sicherheit bietet, ein 13. Jahresgehalt, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und vielleicht sogar eine Betriebsrente. Philipp tut ihnen den Gefallen und beginnt im Herbst eine Ausbildung bei der Telekom. „Ich werde meine privaten Unternehmungen aber weiter betreiben“, sagt er.

Philipp sieht sich nicht als Angestellter, der mit den Jahren langsam, aber stetig in der Hierarchie aufsteigt und beim 40. Jubiläum der Betriebszugehörigkeit eine goldene Uhr erhält, sondern „möchte etwas Eigenes machen und Charakter einbringen“. Seine Vorbilder sind Richard Branson, der Gründer des Plattenlabels Virgin, das später auch eine Fluglinie wurde – oder sogar der amerikanische Immobilientycoon Donald Trump, „weil die auch bei einem Rückschlag nicht aufgeben“. Vier bis fünf Stunden pro Tag sitzt er am Rechner, sammelt Kontakte und akquiriert neue Geschäftspartner. Noch stehe der Ertrag nicht im richtigen Verhältnis zum Aufwand, einige Tausend Euro erwirtschaftet er pro Jahr durch seinen Mini-Handelskonzern, aber die Zukunft leuchtet und strahlt – so sieht er das. Gerade denkt er über ein innovatives Produkt nach, das mit biegsamen Leuchtdioden zu tun hat. Mehr könne er nicht verraten, die Konkurrenz schlafe nicht. Philipp hat in China schon einen Hersteller gefunden, der die Einzelteile einmal produzieren soll. Eine Firma, das hat er verstanden, ist kein Gebäude im Gewerbegebiet, sondern eine Struktur, die funktioniert.

Tobias Moorstedt hat nie vergessen, wie er mal als Pizza-Boy unterwegs war. Weil die Kunden aber ziemlich mit dem Trinkgeld geizten, hat er es ganz schnell wieder sein lassen.