Das Heft – Nr. 78

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Alles Gute kommt von unten

Ohne den Boden unter unseren Füßen gäbe es kein Leben. Zeit, ihm mal Respekt zu zollen

 

Die Füße streifen durch raschelndes Laub, über dem Kopf rauscht das Blätterdach, knacken Äste im Wind, rufen die Vögel. Der Wald lebt, klar, aber noch viel belebter ist das Erdreich. Unter unseren Füßen sind hier mehr Lebewesen unterwegs, als es Menschen auf der Erde gibt. Billionen von Mikroorganismen, viele nicht mal namentlich bekannt, Milliarden von Pilzen und Geißeltierchen, Zehntausende Springschwänze und Milben, Hunderte Regenwürmer und Dutzende Schnecken, Hundertfüßler, Asseln – ein ganzes Universum in nur einem Kubikmeter Erde. Ohne diese Unterwelt und ihre Bewohner gäbe es keine Pflanzen und Wälder, keine Äcker und Städte. Ohne Humus (Erde) kein Homo (Mensch).

Die Erde wäre ohne Boden wüst und leer. Zu unserem Glück hat sich ihre oberste dünne Schicht über Jahrmillionen aus nacktem Gestein zu Böden entwickelt. Unterschiedlichste Formen der Verwitterung haben das Gestein zerkleinert, darauf siedelten vor etwa 475 Millionen Jahren die ersten Pflanzen, die aus den Meeren und Flüssen an Land drängten. Sie lösten mit ihren Wurzeln die harte Schale unseres Planeten weiter auf, wuchsen und vergingen. Ihre Überreste reicherten den Boden an, auf dem wieder Pflanzen sprossen – so entstand in unermesslichen Zeiträumen der Boden, auf dem wir heute stehen. Zwei Meter dick ist er weltweit durchschnittlich. Ein Apfel müsste einen Durchmesser von 8,5 Kilometern haben, damit seine dünne Schale der Bodenschicht der Erde entspräche.

Unser Planet ist der einzige im Sonnensystem, auf dem es diese Art von Boden gibt. Und Äpfel. Im Wald ist diese vor Urzeiten begründete Einheit von Boden und Pflanzen greifbar: Zuoberst liegt das Laub des vergangenen Herbstes, verwelkte und faulig braune Blätter, Krabbler wie der Hundertfüßler, die Asseln oder der Kugelspringer fressen sich durch die Streu und erledigen den ersten Teil der Kompostierung.

Schiebt man die Streu beiseite, finden sich braune Krümel – das Ergebnis einiger Jahre „Bodenarbeit“. Greift man in den lockeren dunklen Humus, hat man schnell einige Jahrzehnte in der Hand. Zentimeter um Zentimeter finden sich weniger Tiere und mehr mineralische Substanzen, bis man schließlich auf festen Untergrund stößt.

Böden ernähren uns, sie filtern das Wasser und regulieren das Klima. Daher sollten wir sie mehr schonen

Der Boden unter unseren Füßen wächst. Auf der ganzen Welt unterschiedlich schnell, aber grob überschlagen sind es rund zehn Zentimeter in 2.000 Jahren – 80 Generationen, bis eine Handbreit Boden nachwächst. Die Äcker, von denen wir hierzulande unser Gemüse einfahren, sind etwa 10.000 Jahre alt und entstanden, als am Ende der vorigen Eiszeit die Gletscher aus Mitteleuropa verschwanden.

 

Das gleichförmige Wiederkehren von Entstehen und Vergehen, der Rhythmus des Bodens, ist in menschlichen Zeiträumen kaum zu erfassen, so langsam geschehen die Prozesse unter der Erde. Eine Ahnung von deren Bedeutsamkeit hatten wohl schon unsere Vorfahren. Archäologen entdecken immer wieder Darstellungen von „Erdgöttinnen“, mit denen Menschen der Altsteinzeit möglicherweise dem Boden und seiner Fruchtbarkeit gehuldigt haben. Zu den bekanntesten Funden Europas zählen die sogenannten Venusfigurinen, handgroße, ausladend geformte Gestalten aus Stein, Ton oder auch Elfenbein – entstanden vor ungefähr 29.500 Jahren, als die Menschen in Europa dem Beginn der Eiszeit machtlos und hungernd entgegensahen.

Moor (Foto: Arnulf Müller)

Gimme Moor! Die Nassgebiete speichern CO² und geben vielen Arten ein Zuhause

(Foto: Arnulf Müller)

Dass es ohne gesunden Boden kein Essen gibt, gilt heute wie damals. Denn auch wenn sich mittlerweile Pflanzen in Nährlösungen züchten lassen, ist das bisher noch zu teuer und energieintensiv, um damit die Menschheit mit Nahrung zu versorgen. Rund 90 Prozent unserer Nahrungsmittel werden mit Boden erzeugt, für fünf Kilogramm Obst wird eine Fläche von dreieinhalb Quadratmetern benötigt, für die gleiche Menge Rindfleisch benötigt man 44-mal so viel Fläche. Um genügend Weizen, Yams und Linsen für die bald acht Milliarden Menschen auf dem Planeten zu produzieren, braucht es keine Gewächshäuser, sondern Felder. Die Menschen des 21. Jahrhunderts sind auf Humus angewiesen – genau wie einst die Steinzeitmenschen.

Mehr noch: Heute wissen wir, dass Böden uns nicht nur ernähren, sondern auch Regenwasser filtern und so neues, sauberes Trinkwasser schaffen. Gesunde Erde speichert Wasser und verhindert Überschwemmungen. Sie reguliert das Klima, kann Hitze und Kälte abpuffern. Und Böden speichern mehr Kohlenstoff als alle Wälder der Welt zusammen – mit großen Auswirkungen auf die Atmosphäre und die Erwärmung der Erde.

Die größte Gefahr für das Bodenuniversum sind wir. In einer Welt ohne den Menschen lägen dichte Wälder und Graslandschaften über der Erde wie eine grüne Decke, Boden und Pflanzen würden einander halten und nähren. Stattdessen isst und verheizt die Menschheit den natürlichen Schutzfilm des Bodens. Für uns mag ein umgegrabener Acker eine Banalität sein, aber in der Einheit von Pflanzen und Böden ist er eine Wunde. Die Ernte, die auf unseren Tellern landet, wird dem Kreislauf entnommen, und ohne organisches Material, das in den Ackerboden eingeht, kann dieser nicht wachsen. Schlimmer noch: Wird er nicht gewissenhaft gepflegt, schwemmt Wasser und weht Wind den Ackerboden unwiederbringlich davon.

Durch Wetterextreme wie große Dürren schrumpft die globale Ackerfläche und damit auch die Erde

Ein so aus dem Takt gebrachter Boden kann gefährlich werden. Als sich beispielsweise im April vor zehn Jahren in Mecklenburg-Vorpommern eine riesige Sandwolke wie ein brauner Teppich auf die Autobahn legte, kollidierten 85 Autos und acht Menschen starben, weil der starke Wind die oberste Bodenschicht eines nahen Feldes aufgewirbelt hatte. Langfristig macht die Misswirtschaft den Boden zur Mangelware: Nur rund elf Prozent der Landoberfläche der Erde sind Ackerland, und jedes Jahr verschwinden davon etwa zehn Millionen Hektar – weil es falsch genutzt oder überbaut wird. Der Klimawandel trägt sein Übriges dazu bei, wenn Wetterextreme die Erosion beschleunigen oder die Tiere und Mikroorganismen im Boden unter den veränderten Bedingungen leiden. So schrumpft nicht nur die globale Ackerfläche, sondern auch die darauf erwirtschaftete Ernte.

Das Science-Fiction-Genre projiziert dieses Szenario immer wieder in die ferne Zukunft: den Verlust des Bodens, die intergalaktische Suche nach fruchtbarer Erde, einer neuen Heimat auf fernen Planeten. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, dass auf der Erde schon vielfach Zivilisationen an ihrem Umgang mit Boden gescheitert sind: Rom musste ab dem Jahr null jedes Jahr schätzungsweise 200.000 Tonnen Getreide aus den römischen Provinzen in Nordafrika importieren, die ausgelaugten Felder des Umlandes konnten die Bewohner nicht mehr ernähren. Die Hochkultur der Maya hatte um das Jahr 800 n. Chr. ihren Höhepunkt erreicht, bis zu sechs Millionen Menschen lebten im Tiefland von Yucatán im heutigen Mexiko. Die intensive Bewirtschaftung ließ den Boden erodieren, was wohl zum Niedergang des indigenen Volkes beitrug. Von anderen Gesellschaften wie den ersten Bewohnern der Osterinsel ist nicht viel mehr geblieben als beeindruckende meterhohe Steinskulpturen. Die heute weitgehend kahle Insel im Südostpazifik muss einst ein palmenbewaldetes Paradies gewesen sein – Heimat einer Kultur mit Sinn für monumentale Kunst und einem verhängnisvollen Hang zur Übernutzung natürlicher Ressourcen.

Die wertvollste Eigenschaft des Bodens: Er verzeiht

Es gibt viele Gründe, warum diese Zivilisationen ein Ende fanden – Angriffe von außen, Verwerfungen im Inneren, harte Winter, lange Dürren. Doch ihnen allen ist gemein, dass sie es versäumt hatten, den Boden – die Grundlage ihres Wohlstandes und die Basis ihrer Gesellschaft – ausreichend zu schützen.

Die vielleicht wertvollste Eigenschaft des Bodens ist aber die: Er verzeiht. Wo man mit dem Boden nicht auch das Klima zerstört, hat er das Potenzial, sich wieder zu erholen. Selbst Supermarkterde aus dem Plastiksack, kaum mehr als steriler Dreck, kann mit etwas Mühe, Kompost und Würmern wieder zum Leben erweckt werden. Wird Boden schonend bewirtschaftet, nicht ausgelaugt, sondern geschützt, schließt sich der Kreis zwischen Pflanzen und Boden – und Menschen.

Denn natürlich sind auch wir ein Teil des Ganzen. Auch unsere Körper werden einmal in den Boden eingehen, von den Bodenbewohnern zersetzt, bis nach einigen Jahren nur noch unsere Knochen und nach Jahrzehnten nichts mehr von uns übrig sein wird. Selbst zu Asche verbrannt nähren unsere Überreste den Boden. Und etwas Neues beginnt.

Titelbild: Andia/Universal Images Group via Getty Images

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