Wie viel Lärm macht ein Wassertropfen? Es ist früher Morgen im Olympic National Park, einem Nationalpark zwischen Seattle und der kanadischen Grenze. Zwischen den Bäumen des Regenwaldes, den haushohen Sitka-Fichten und Oregon-Ahornen, hängen Nebelschwaden im Sonnenlicht. Es sieht aus, als würde der Wald atmen. Gordon Hempton steht unter den Ästen eines Ahorns. Das Blatt, das er anstarrt, ist groß wie eine Zeitungsseite. Wasser hat sich darauf gesammelt. Hempton hält einen grauen Kasten in der Hand, ein Schallpegelmessgerät. Er legt den Finger an die Lippen – kein Wort jetzt! Ein Tropfen löst sich, fällt, zerplatzt auf einem moosigen Stein. Hempton sieht auf die Anzeige seines Instruments und strahlt: „Meine Güte, ist das laut! Unglaublich.“

Gordon Hempton ist akustischer Ökologe, ein Beruf, den es so nur in den USA gibt. Er lebt hier, im Nationalpark, weil es, wie er sagt, „der ruhigste Ort in den USA ist“. Hempton hat Biologie studiert. Das Aufnehmen von Naturgeräuschen war anfangs nur seine Methode, sich selbst „das Hören beizubringen“. Eine Fähigkeit, die die meisten Menschen verlernt haben, wie er findet. Mittlerweile sind diese Mitschnitte sein Beruf. Seit mehr als 25 Jahren steht er vor Sonnenaufgang auf und geht in den Wald – mit seinem Mikrofon, das ein wenig aussieht wie der Roboter C-3PO aus „Star Wars“. „Anfangs konnte ich davon nicht leben“, sagt Hempton, „es war nur ein Projekt.“ Inzwischen hat er für eine seiner Aufnahmen einen Emmy gewonnen und wird von Firmen wie Microsoft um die ganze Welt geflogen, wenn diese authentische Geräusche für Computerspiele oder Simulationen brauchen. Aber auch wenn Hempton zum Beispiel die Akustik der New Yorker Grand Central Station aufnimmt, gehört seine ganze Aufmerksamkeit der Stille. Oder dem, was andere Menschen darunter verstehen: dem Singen des Windes in einem hohlen Baumstamm, dem Grollen der Wellen in einer Höhle am nahe gelegenen Strawberry Beach oder eben dem Platzen eines Wassertropfens auf einem nassen Stein. All den Geräuschen, die keiner macht, die jedoch immer da sind.

„Ich will die Stille konservieren, bevor sie ganz aus der Welt verschwindet“, sagt er. Für Gordon Hempton ist Stille das Gleiche wie sauberes Wasser oder reine Luft: etwas, ohne das wir Menschen nicht existieren können. „Was für ein Geräusch macht ein Löwe?“, fragt er. Hempton versucht damit zu erklären, warum Lärm Stress verur-sacht: „Laute Geräusche bedeuten Macht, Aggression, Gefahr. In einer lauten Umgebung sind wir unbewusst ständig auf der Hut.“ Deswegen ist es ihm so wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem jeder akus-tischen Frieden erleben kann: den OSI oder One Square Inch. Eigentlich ist dieser „Quadratzoll“ ein Stein, den Hempton als Dank für seine Bemühungen von einem Indianerhäuptling des hiesigen Quileute-Stamms überreicht bekam. Klein ist er, der Stein. Kaum größer als eine Streichholzschachtel. Und sienarot. 

Hempton hat ihn auf einen umgestürzten Baumstamm gelegt, mitten im Wald. Wanderern, die die Stille suchen, soll er signalisieren, dass sie hier durch nichts gestört werden. Nicht einmal durch das Geräusch eines Flugzeugs. Gordon Hempton verbringt viel Zeit im Park. Wann immer er Flugzeugmotoren hört, notiert er sich die Uhrzeit. Zu Hause recherchiert er dann die verantwortliche Fluggesellschaft und erklärt ihr sein Anliegen. Bittet sie darum, ihre Route zu ändern. Die meisten tun es. Doch um die öffentliche Anerkennung des OSI bemüht Hempton sich noch immer. „Was bringen uns Nationalparks, in denen Stromgeneratoren brummen? Oder noch schlimmer: die mit Musik beschallt werden?“, fragt er. 

Ein Quadratzoll Stille, das wäre für ihn schon ein Anfang. Denn so, wie Lärm über große Distanzen zu hören ist, würde das akustische Naturschutzgebiet im Gegenzug bedeuten, dass in einem großen Stück des Waldes Stille herrscht. Ausgehend von der Fläche einer Streichholzschachtel. Dafür sind allerdings auch die Wanderer verantwortlich: Wer den OSI besucht, muss schweigen.

Irgendwann soll, so wäre es Hempton am liebsten, am Wanderweg „Hoh River Trail“ ein Wegweiser stehen, der die Richtung weg vom Fluss ins Unterholz weist. Im Moment sind es noch weiße Schleifen, die helfen, den Stein zu finden. Hempton deutet auf die erste, dann stapft er wortlos voran. Er benutzt Baumstämme als Brücken, weil der Boden oft nur aus Schlamm oder Pfützen besteht. Am Stein angekommen sieht er nach dem Einweckglas, das er dort aufgestellt hat. Darin sind Notizen, die Wanderer hinterlassen haben: Briefe an Verstorbene. Gedanken zur Stille. Ein Heiratsantrag. Für ihn sind die Zettel ein Zeichen, dass der OSI etwas bei den Menschen bewirkt. „In jeder dieser Botschaften geht es um Liebe. Oder um Wunder“, sagt er. Und sieht dabei sehr zufrieden aus.

Gordon Hempton, 55, entschied sich nach einem Hörsturz, in die Natur zu ziehen. Über das Glas am OSI sagt er: „Damit sich Besucher austauschen können. Auch ohne zu sprechen.“