Warum fürchten wir den weiblichen Körper so? Vier Jahrzehnte, nachdem die Frauen in den meisten westlichen Ländern alle Rechte und die Gleichstellung erreicht haben, wird auf gesellschaftlicher Ebene nach wie vor eine gnadenlose und inszenierte Abscheu vor dem weiblichen Fleisch kultiviert. Unabhängig von Alter, Herkunft oder Physiognomie werden unsere Körper abgestraft und überwacht. Jeden Tag werden wir in Film und Fernsehen, in der Werbung und in den Printmedien, aber auch durch flüchtige Bekannte mit unzähligen – mehr oder weniger subtilen – Botschaften bombardiert, die uns suggerieren, dass wir nicht jung genug, schlank genug, hellhäutig genug und willfährig genug sind. Es gibt kein Entkommen. Zu ritualisierten Akten von Konsum und Selbstdisziplinierung gezwungen, die weltweit einen riesigen Markt an Schönheits-, Diät-, Mode- und Pflegeprodukten hervorbringen, hungern selbst in den Ländern, wo ausreichend Nahrung vorhanden ist, viele Frauen täglich, um nur ja nicht zu viel Raum zu beanspruchen.

Raum zu beanspruchen. Worum es hier geht, ist die Abscheu vor dem Fleisch: die plastifizierte Abneigung des Kapitalismus gegen das Sinnliche und die Intimität der menschlichen Sexualität. Die modernen Sittenwächter werden über die Natur dieser Konsumentenintimität getäuscht, denn ihre Komplizenschaft ist ein notwendiger Teil des Betrugs: Die strategische Entfremdung der sexuellen Konsumenten von ihrer erotischen Identität setzt auf die Zensur, um den Unterschied zwischen sexueller Intimität und erotischem Kapital zu verschleiern, da nur eines von beiden massenweise produziert werden kann. Eine so freudlose Vision von Erotik wirkt nur deshalb reizvoll und spannend, weil die Jungen auf der Suche nach Sex nichts anderes haben, an dem sie sich abarbeiten könnten. Antiquierte Paradigmen sexueller Moral kontrollierten die Sexualität junger Menschen mit einem ganzen Sortiment an dubiosen Instrumenten, von Schnürkorsetts mit Stahlstäben bis hin zu Genitalkapseln mit Stacheln, die junge Männer vom Masturbieren abhalten sollten. Unser befreites und freizügiges Zeitalter der spaßgeilen Handelserotik zwingt uns, das Korsett und die Stacheln zu verinnerlichen: zu hungern, zu leiden, Geld auszugeben, uns zu stylen, zu funktionieren und unseren Platz in einem Schauspiel einzunehmen, in dem aus dem sexuellen Mangel Kapital geschlagen wird, obwohl wir de facto in einer Zeit des erotischen Überflusses leben.

Werbung mit Sex turnt einen so ab, dass es eine Lust ist, nichts zu kaufen

Die Werbung umgibt uns mit Bildern, die sinnliches Vergnügen darstellen sollen: Von den Spots für Kräuteressenzen bis hin zur kultigen Kampagne zum 40. Geburtstag eines Schokoriegels von Cadbury werden uns die Gesichter von weißen Frauen präsentiert, die Lust simulieren und sich mit leicht geöffneten Lippen und elegant geschlossenen Augen abwenden, als ob die orgasmische Wirkung des fraglichen Produktes X sie beschämen würde.

Aber bei diesem Bild stimmt etwas nicht. Ein aktueller und sehr gelungener Akt von Gegenkultur im ursprünglichsten Sinne ist die Webseite „Beautiful Agony“, ein Gruppenprojekt, bei dem anonyme Teilnehmer kurze Videoaufnahmen ihrer Gesichter beim Orgasmus ins Netz stellen. Wenn man dem haarigen Motorradfreak aus Australien und den coolen Ladys mittleren Alters beim Knurren, Schnaufen und Grimassieren zusieht, was durchaus an brünstige Schimpansen erinnert, wird einem klar, wie groß die Lüge ist, die von der merkantilen Erotik am Leben erhalten wird. All diese Videoclips, von denen jeden Monat Hunderte ins Netz gestellt werden, haben eine Sache gemeinsam: Sie animieren den Betrachter in keinster Weise dazu, in den nächsten Laden zu eilen, um Schokolade zu kaufen.

Laurie Penny, 25, ist Journalistin, Bloggerin und laut Selbstauskunft Feministin und Unruhestifterin. Sie lebt in London, trinkt viel Tee und hat das Rauchen immer noch nicht aufgegeben. Sie schreibt regelmäßig für die renommierte englische Tageszeitung „The Guardian“ und betreibt das politische Blog www.penny-red.com. In Deutschland ist ihr Buch „Fleischmarkt: Weibliche Körper im Kapitalismus“ bei der Edition Nautilus erschienen