Kultur

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Die Gejagte

Der dokumentarische Spielfilm „I, Tonya“ zeigt das Leben der Eiskunstläuferin Tonya Harding – und rollt einen der spektakulärsten US-amerikanischen Kriminalfälle der letzten Jahrzehnte auf

  • 4 Min.
I, Tonya

Worum geht’s?

Tonya Harding wird in den 70er-Jahren in Oregon als Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin in arme Verhältnisse geboren. Doch ihre Mutter LaVona Golden hat Größeres mit ihr vor und schickt Tonya schon im Alter von drei Jahren aufs Eis. Beim Eiskunstlaufen entwickelt die talentierte Tonya den nötigen Ehrgeiz, um extreme Leistungen zu bringen. Das harte Training und die Demütigungen ihrer gewalttätigen Mutter vom Rand der Eisfläche bringen das junge Mädchen an seine Grenzen, aber das Eiskunstlaufen ist alles, was Tonya hat. Bis sie mit Jeff zusammenkommt. Einem gut aussehenden, doch nicht minder gewalttätigen Jungen vom Land, der Tonya regelmäßig so lange verprügelt, bis die Polizei kommt. Als die US-amerikanischen Meisterschaften näher rücken und Tonya gute Chancen auf den Sieg hat, und damit auf die Teilnahme an der Winterolympiade 1994, plant Jeff gemeinsam mit seinem besten Freund ein Attentat auf Tonyas schärfste US-Konkurrentin Nancy Kerrigan. Sie bezahlen einen ihrer Raufbrüder, der Nancy mit einem Schlagstock das Knie zertrümmert.

Tonya ist der „White Trash“, der nicht dazugehört zur elitären und kultivierten Welt des Eiskunstlaufens

Zwar gewinnt Tonya daraufhin die Meisterschaften, doch als ihre bis heute nicht vollständig geklärte Mitwisserschaft vom Attentat bekannt wird, beginnt eine öffentliche Hetzjagd auf die damals erst 23-Jährige. Der Titel wird ihr aberkannt, die Medien stürzen sich auf ihr Privatleben und verfolgen die „Eishexe“ Tag und Nacht. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, und der Eiskunstlaufverband, der „trashy Tonya“ schon immer auf dem Kieker hatte, diskreditiert sie noch mehr als zuvor. 

Worum geht’s wirklich? 

Um ein Mädchen aus der Unterschicht, das seit seiner Geburt nichts als Missachtung und Ablehnung erfährt: von der Mutter, deren Wutausbrüche einmal mit einem Steakmesser in Tonyas Arm enden. Vom Vater, der abhaut, als Tonya noch nicht mal in der Schule ist. Von Klassenkameraden und später von ihrem prügelnden Ehemann Jeff Gillooly. Bis hin zum Eiskunstlaufverband, der die in selbst genähten Kostümen und schrillem Make-up auftretende Tonya Harding systematisch schlechter bewertet als die Eisprinzessinnen aus gutem Elternhaus. Tonya ist der „White Trash“, der nicht dazugehört zur elitären und kultivierten Welt des Eiskunstlaufens. Als Tonya einen Preisrichter nach dem Turnier unter vier Augen darauf anspricht, sagt ihr dieser direkt: „Sie entsprechen nicht dem Image, das wir wollen. Wir wollen jemanden aus einer gesunden amerikanischen Familie.“ 

itonya

I, Tonya

Schuldig oder nicht? Das ist bis heute nicht klar - lebenslang gesperrt wurde sie trotzdem

Wie wird’s erzählt?

Im Stile des Dokutainment. Die Protagonisten sprechen direkt in die Kamera und erzählen ihre Sicht auf die Geschichte im Rückblick. Dabei werden die Ereignisse von damals re-inszeniert, was überwiegend ziemlich lustig, doch gleichzeitig auch unglaublich tragisch ist. Denn bei der Komödie von Regisseur Craig Gillespie handelt es sich nicht um eine ausgedachte, sondern um die wahre Geschichte von Tonya Harding. 

Was zeigt uns das?

Der Film zeigt – neben dem Attentat und dem daraus resultierenden Prozess – vor allem auch Tonya Hardings jahrelangen Kampf um Anerkennung. Sie wird geboren und hat schon verloren. Trotz ihres stundenlangen Trainings jeden Tag, trotz der Tatsache, dass sie als erste Frau den dreifachen Axel während eines Wettbewerbs meistert, und trotz ihres außergewöhnlichen Könnens wird Tonya von der Gesellschaft und den Menschen um sie herum niedergemacht. Harding kämpft um Respekt, ob von ihrer Mutter, ihrem Mann, dem Eiskunstlaufverband, der Presse oder der Polizei. Doch sie steht ziemlich allein da. 

Zitat

„Nancy und ich waren Freundinnen, aber die Presse wollte, dass Nancy die Prinzessin ist und ich ein Haufen Scheiße.“

„Für einen Moment wurde ich geliebt. Dann wurde ich gehasst. Es war, als würde ich wieder missbraucht. Diesmal von euch.“

FYI

So überzeichnet die Figuren und der gesamte Prozess im Film auch anmuten, ein Blick in das Originalmaterial, das im Abspann gezeigt wird und ebenso auf Youtube zu finden ist, zeigt: Selbst die abstrusesten Sätze wurden wortwörtlich so gesagt. Besonders bizarr (und realgetreu) ist der Charakter des besten Freundes von Tonyas Ehemann und ihres späteren Bodyguards Shawn Eckardt. Neben seiner selbst ernannten Tätigkeit als „Terrorexperte“ war er auch hauptverantwortlich für das Attentat. Seine – doch recht unterhaltsamen – geistigen Entgleisungen und sein Größenwahn entspringen keineswegs der Feder eines Drehbuchautors, sondern seiner eigenen Fantasie.

Good Job! 

Der Soundtrack: Von Hot Chocolates „Everyone’s a winner“ bis Hearts „Barracuda“ untermalen die poppigen Tracks den Film.

Ideal für …

… Zuschauer, die auf Formate über spektakuläre Kriminalfälle und Skandale der amerikanischen Geschichte à la „O. J. Simpson – Made in America“ stehen. Auch „I, Tonya“ reiht sich in diesen Reigen ein, der versucht, einen Teil der amerikanischen Gesellschaft zu erklären. 

Fotos: NEON

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.